Die vierte Hand
lachen.
»Von mir wirst du wenigstens nicht geschwängert«, bemerkte ihre Mutter. Auch darüber versuchten die beiden zu lachen.
Wallingfords ehemalige akademische Betreuerin begann die Litanei der enttäuschenden Männer in ihrem Leben herunterzubeten. Einen Teil dieser Liste kannte ihre Tochter bereits, aber sie bekam ihrerseits schon eine Liste zusammen, wenn diese bis jetzt auch erheblich kürzer war als die ihrer Mutter. Sie tranken zwei halbe Flaschen Wein aus der Minibar, ehe der rote Bordeaux kam, den sie zum Essen bestellt hatten, und sie tranken auch diesen. Dann riefen sie den Zimmerservice an und bestellten eine zweite Flasche.
Der Wein löste ihnen die Zunge - und das vielleicht in stärkerem Maße, als es in einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter angebracht oder schicklich war. Daß ihre ungeratene Tochter von einer Vielzahl leichtsinniger Jungen hätte schwanger werden können, ehe sie den Rüpel kennenlernte, der es dann tatsächlich geschafft hatte, wäre für jede Mutter eine bittere Pille gewesen - auch in Paris. Daß Patrick Wallingfords ehemalige akademische Betreuerin eine unverbesserliche Aufreißerin war, wurde selbst ihrer Tochter deutlich; daß ihre Mutter dank ihrer sexuellen Vorlieben mit immer jüngeren Männern, darunter schließlich auch einem Teenager, angebändelt hatte, war möglicherweise eine Erkenntnis, auf die keine Tochter gesteigerten Wert legte.
Während einer willkommenen Unterbrechung der endlosen Bekenntnisse ihrer Mutter - die nicht mehr ganz taufrische Bewunderin der metaphysischen Dichter unterschrieb gerade für die zweite Flasche Bordeaux und flirtete dabei schamlos mit dem Zimmerkellner - schaltete die Tochter auf der Suche nach Ablenkung von dieser ungewollten Vertraulichkeit den Fernseher ein. Wie es sich für ein erst kürzlich schick renoviertes Hotel gehörte, bot das ›Bristol‹ eine Vielzahl von Satellitensendern, und wie es der Zufall wollte, hatte die Mutter kaum die Tür hinter dem Zimmerkellner geschlossen und sich zu ihrer Tochter und dem Fernseher umgedreht, als sie sah, wie ihr Exliebhaber seine linke Hand an einen Löwen verlor. Einfach so!
Natürlich schrie sie, weshalb auch ihre Tochter schrie. Die zweite Flasche Bordeaux wäre dem Griff der Mutter entglitten, hätte sie den Flaschenhals nicht fest umklammert. (Möglicherweise stellte sie sich vor, die Flasche sei eine ihrer Hände, die gerade im Rachen eines Löwen verschwand.)
Die Handfreßepisode war vorüber, ehe die Mutter die verdrehte Geschichte ihrer Beziehung zu dem nun verstümmelten Fernsehjournalisten noch einmal erzählen konnte. Es sollte eine Stunde vergehen, bis der internationale Nachrichtensender die Szene erneut brachte, obwohl alle fünfzehn Minuten ein beim Sender sogenannter »Anheizer« kam, der den bevorstehenden Bericht ankündigte - jedes Promo ein Teilstück von zehn bis fünfzehn Sekunden: Die Löwen, wie sie sich in ihrem Käfig um einen übriggebliebenen und nicht genau erkennbaren Bissen rauften; der an Patricks ausgerenkter Schulter baumelnde, handlose Arm; der verblüffte Ausdruck auf Wallingfords Gesicht, kurz bevor er in Ohnmacht fiel; die flüchtige Ansicht einer BH-losen Blondine mit Kopfhörern, die in einer wie Fleisch aussehenden Masse zu schlafen schien. Mutter und Tochter blieben eine weitere Stunde auf, um sich die ganze Episode noch einmal anzusehen. Diesmal bemerkte die Mutter über die BH-lose Blondine: »Ich wette, er hat mit ihr gevögelt.« In diesem Stil machten sie die zweite Flasche Bordeaux hindurch weiter. Die dritte Betrachtung des kompletten Ereignisses rief lasziv-hämisches Geschrei hervor - als bekäme Wallingford die Strafe, als die sie das Ganze sahen, stellvertretend für alle Männer, die sie je gekannt hatten. »Nur daß es nicht seine Hand hätte sein müssen«, sagte die Mutter. »Ja, genau«, bestätigte die Tochter.
Doch nach der dritten Betrachtung des grausigen Vorfalls nahm man das endgültige Verschlingen der Körperteile mit mißmutigem Schweigen auf, und die Mutter ertappte sich dabei, daß sie den Blick von Patricks Gesicht abwandte, kurz bevor er in Ohnmacht fiel. »Armes Schwein«, sagte die Tochter leise. »Ich gehe schlafen.« »Ich glaube, einmal seh ich's mir noch an«, antwortete ihre Mutter. Die Tochter lag schlaflos im Bett; das flackernde Licht drang unter der Tür zum Wohnzimmer der Suite hindurch. Sie hörte ihre Mutter, die den Ton abgedreht hatte, vor sich hin schluchzen.
Pflichtschuldig setzte
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