Die vierte Hand
als Tylenol mit Kodein. Wallingford hatte viermal nacheinander denselben Traum - das letzte Mal auf dem Flug von Frankfurt nach New York. Das Tylenol mit Kodein hatte er auf der ersten Etappe der langen Reise, von Bombay nach Frankfurt, genommen, weil er sich (trotz der Schmerzen) das Beste bis zum Schluß aufheben wollte.
Die Stewardess zwinkerte ihm zu, als sie ihn kurz vor der Landung in New York aus seinem Blaue-Kapsel-Traum weckte. »Wenn das Schmerzen waren, die Sie da gehabt haben, dann hätte ich die gern mit Ihnen zusammen«, flüsterte sie. »Zu mir hat noch keiner so oft ›ja‹ gesagt!« Obwohl sie Patrick ihre Telefonnummer gab, rief er sie nicht an. Fünf Jahre lang hatte Wallingford keinen so guten Sex mehr wie in dem Blaue-Kapsel-Traum. Und er brauchte noch länger, um zu begreifen, daß die kobaltblaue Kapsel, die Dr. Chothia ihm gegeben hatte, mehr war als ein schmerzstillendes Mittel und eine Sexpille - noch wichtiger, sie verhalf einem zu einem Blick in die Zukunft.
Doch ihr Hauptnutzen bestand darin, daß er dank ihr nicht mehr als einmal im Monat von dem Ausdruck träumte, der in den Augen des Löwen gelegen hatte, als das Tier seine Hand gepackt hielt. Die riesige, gerunzelte Stirn des Löwen; seine lohfarbenen, gewölbten Augenbrauen; die in seiner Mähne summenden Fliegen; die rechteckige, blutbespritzte und von Krallenspuren zernarbte Schnauze der Großkatze - diese Einzelheiten waren nicht so tief in Wallingfords Gedächtnis, dem Stoff seiner Träume, verankert wie die gelbbraunen Augen des Löwen, in denen Patrick so etwas wie eine leere Traurigkeit erkannt hatte. Nie würde er jene Augen vergessen - ihren leidenschaftslos musternden Blick in sein Gesicht, ihre gleichsam wissenschaftliche Distanziertheit. Ungeachtet dessen, woran sich Wallingford erinnerte oder wovon er träumte, die Zuschauer des Senders mit dem passenden Spitznamen Apokalypse International jedenfalls erinnerten sich an jede einzelne, atemberaubende Sekunde der Handfreßepisode selbst - und träumten davon.
Der Katastrophenkanal, der regelmäßig wegen seiner Vorliebe für bizarre Todes- und dumme Unfälle verspottet wurde, hatte im Zuge der Berichterstattung über genau so einen Todesfall genau so einen Unfall produziert und seinen Ruf dadurch auf beispiellose Weise gesteigert. Und diesmal war die Katastrophe einem Journalisten passiert! (Man glaube ja nicht, das hätte nicht zur Popularität der weniger als dreißigsekündigen Amputation beigetragen.)
Erwachsene identifizierten sich im allgemeinen mit der Hand, wenn auch nicht mit dem unglücklichen Reporter. Kinder neigten dazu, mit dem Löwen zu sympathisieren. Natürlich gab es hinsichtlich der Kinder Warnungen. Immerhin waren ganze Kindergartengruppen auseinandergefallen. Und Zweitkläßler - die endlich soweit waren, daß sie flüssig lesen und das Gelesene auch verstehen konnten - fielen auf eine analphabetische, rein visuelle Entwicklungsstufe zurück.
Eltern, die damals Kinder in der Grundschule hatten, werden stets an die Lehrerbriefe denken, die sie nach Hause geschickt bekamen, Briefe des Inhalts: »Wir empfehlen dringend, daß Sie Ihre Kinder nicht fernsehen lassen, bis die Geschichte mit dem Löwen nicht mehr gezeigt wird.« Patricks ehemalige akademische Betreuerin war gerade mit ihrer einzigen Tochter auf Reisen, als der Unfall, der ihren Exliebhaber die Hand kostete, zum ersten Mal im Fernsehen gezeigt wurde. Die Tochter hatte es geschafft, in ihrem letzten Jahr im Internat schwanger zu werden; das war zwar keine sonderlich originelle Leistung, kam in einer reinen Mädchenschule aber dennoch unerwartet. Die nachfolgende Abtreibung hatte die Tochter traumatisiert und zu einer Beurlaubung vom Unterricht geführt. Das verzweifelte Mädchen, das von seinem unsympathischen Freund sitzengelassen worden war, noch ehe es wußte, daß es ein Kind von ihm erwartete, würde das letzte Schuljahr wiederholen müssen.
Auch die Mutter hatte es schwer. Sie war noch in den Dreißigern gewesen, als sie Wallingford verführt hatte, der über zehn Jahre jünger, aber der bestaussehende Junge unter ihren höheren Semestern gewesen war. Mittlerweile Anfang Vierzig, machte sie gerade ihre zweite Scheidung durch, deren gütliche Abwicklung durch die unerfreuliche Enthüllung erschwert worden war, daß sie erst vor kurzem erneut mit einem ihrer Studenten - ihrem allerersten unteren Semester - geschlafen hatte. Er war ein schöner Junge - leider der einzige Junge in ihrem
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