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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nicht krank werden?«
    »Denk doch an Howsannah und das Kind!«
    Sie ging zum Bett und legte ihre Handflächen auf Juliettens Schultern. In dieser Stellung wandte sie sich nach Gabriel um:
    »So, jetzt kann ich nicht mehr in unser Zelt zurückgehn, jetzt kann ich nicht mehr Howsannah und das Kind berühren …«
    Er versuchte sie fortzuziehn:
    »Was wird Aram Tomasian dazu sagen? Nein, ich kann es vor ihm nicht verantworten, Iskuhi! Geh, um deines Bruders willen, Iskuhi, geh!«
    Sie beugte sich tief über das Gesicht der Bewußtlosen, die jetzt immer unruhiger wurde:
    »Warum schickst du mich fort? Wenn es geschehn soll, so ist es jetzt geschehn. Mein Bruder? Das ist mir alles nicht mehr wichtig.«
    Er trat leise und unsicher hinter sie:
    »Du hättest das nicht tun sollen, Iskuhi.«
    Über ihr Gesicht zuckte es fast wie leidenschaftlicher Spott:
    »Ich? Was bin ich? Du bist der Führer. Wenn du krank wirst, ist alles verloren.«
    Mit ihrem Taschentuch reinigte sie den Mund der Kranken:
    »Als wir aus Zeitun kamen, war Juliette so gütig, so wunderbar zu mir. Ich habe jetzt eine Pflicht zu erfüllen, so gut ich es kann. Verstehst du das nicht?«
    Er versenkte seine Lippen in ihr Haar. Sie aber umfing ihn mit aller Kraft: »Bald ist doch alles vorbei! Und ich will dich haben. Ich will bei dir gewesen sein!«
    Es war der erste offene Ausbruch von Iskuhis Liebe. Sie hielten einander fest, als läge eine Tote neben ihnen, die nichts mehr spürt. Doch Juliette war nicht tot. Ihr Atem röchelte. Manchmal entrang sich ein kleiner, jammernder Laut ihrer verengten und geschwollenen Kehle, als suche sie jemanden, der ihr immer wieder entweiche. Da ließ Iskuhi Gabriel los, doch wie mit weinenden Händen. Dann sprachen sie nur mehr einsilbige Sachlichkeiten, um der Bewußtlosen willen.
    Während der Nacht kam Juliette für eine Weile zu sich. Sie begann wirr zu reden und versuchte, sich aufzustemmen. Wie weit war der Weg, den sie zurückzulegen hatte. Doch gelangte sie nur bis in ihre Wohnung in der Avenue Kléber und nicht bis auf den Damlajik:
    »Suzanne … Was ist denn los? … Bin ich krank? … Ich bin krank … Ich kann nicht aufstehn … So helfen Sie mir doch …«
    Sie verlangte einen Dienst. Gabriel und Iskuhi halfen der Kranken, die sich noch immer in ihrem Pariser Schlafzimmer befand. Vom Schüttelfrost hin und her geworfen, lallte Juliette:
    »So … Ich glaube, jetzt werde ich schlafen … Es ist wieder einmal meine Angina, Suzanne … Nichts Arges, hoffentlich … Wenn mein Mann nach Hause kommt, wecken …«
    Die gemurmelte Nennung des einstigen Bagradian, der in der Welt dieser Kranken ein gesichertes Leben führte, wirkte auf den wirklichen Bagradian erschütternd. Er tauchte wieder ein Tuch ins Wasser und erneuerte die Kompresse um Juliettens Hals. Dann deckte er sie mit großer Sorgfalt zu und flüsterte:
    »Ja, schlafe, schlaf nur, Juliette!«
    Sie sagte etwas Unverständliches. Es klang wie müder Dank und wie das kindliche Versprechen, gehorsam schlafen zu wollen. Gabriel und Iskuhi saßen schweigend, dicht aneinander gedrückt und Hand in Hand auf dem Diwan. Er aber ließ kein Auge von der Kranken. Sonderbarste Lebensverwicklung! Der Betrogene diente – sie mit einer anderen betrügend – der Betrügerin. Juliette schien nun wirklich zu schlafen.
    Die Stunde war da. Gonzague Maris hatte sich entschlossen, nicht länger mehr zu warten. Ein Ruck! Vorbei ist vorbei. Und doch, er schlüpfte nicht so leicht aus diesen seltsamsten Wochen seines Lebens, wie er sichs vorgenommen hatte. Mit Verwunderung erkannte er, daß ihn ein ausgesprochenes Leidensgefühl zurückhielt. War seine Liebe zu Juliette größer als er wußte? War es ein Schuldbewußtsein, das seine Freiheit trübte? In den letzten Tagen hatte sich die Frau so wirr und unbegreiflich benommen und durch ihre Qual sein Mitleiden und den Wunsch, sie zu beschützen, immer wieder aufgerührt. Und dann, das Ende war so schändlich. Wenn er des gräßlichen Augenblickes gedachte, preßte er die Zähne aufeinander und sein beherrschtes Gesicht verzerrte sich. Mußte er sich wie ein windiger Lump diesem Ende, diesem abscheulichen Abbruch beugen? Mehr als einmal hatte er sein Versteck verlassen und war bis in die Nähe des Dreizeltplatzes gekommen, um mit Gabriel Bagradian zu sprechen und um Juliette zu kämpfen. Jedesmal aber war er wieder zurückgekehrt, nicht aus Feigheit, sondern aus einem neuartig unüberwindlichen Befangenheitsgefühl:

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