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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Marmorhand auf den staubigen Papierbau, der den Schreibtisch so hoch bedeckt, daß sein edles Pferdegesicht immer wieder dahinter verschwindet. Das hohe Fenster des auffällig leeren Zimmerchens steht weit offen. Aus dem Garten des Auswärtigen Amtes dringt dunstig schlaffe Sommerluft in den Raum. Johannes Lepsius sitzt ziemlich steif auf dem Besucherplatz mit dem Hut auf den Knien. Seit seiner denkwürdigen Unterredung mit Enver Pascha ist kaum mehr als ein Monat vergangen und doch hat sich das Aussehen des Pastors in beängstigender Weise verändert. Sein Haar scheint schütterer, sein Bart grauer, die Nase kürzer und spitzer geworden zu sein. Die Augen strahlen nicht mehr. Die träumerische Weite ist aus ihnen verschwunden und hat einem abwartenden und spöttischen Argwohn Platz gemacht. Kann die Krankheit seines Blutes in diesen wenigen Tagen so bedenklich fortgeschritten sein? Ist es der armenische Fluch, der in geheimnisvoller Verbundenheit ihn, den Deutschen, mitverzehrt? Ist es die unermeßliche Arbeit, die er in kurzer Zeit geleistet hat? Schon steht das neue Hilfswerk gegen Tod und Teufel auf festen Füßen. Sogar Geld ist da und die besten Menschen sind gewonnen. Es gilt nun, das Sphinxrätsel der Staatsmacht zu lösen. Der Blick des Pastors gleitet hinter dem aufblitzenden Zwicker verächtlich über den Aktenberg. Der liebenswürdige Geheimrat zieht die Augenbrauen hoch, nicht aus Verwunderung, sondern um sein goldgefaßtes Einglas fallen zu lassen:
    »Es vergeht kein Tag, glauben Sie mir, an dem nicht eine Mahnung an die Botschaft in Konstantinopel aus dem Hause gesandt wird. Und es vergeht keine Stunde, in der nicht der Botschafter bei Talaat und Enver in dieser scheußlichen Angelegenheit interveniert. Trotz der größten Sorgen ist der Herr Reichskanzler persönlich mit dem größten Eifer dahinter. Sie kennen ihn ja, er ist ein Mann wie Marc Aurel … Ich darf übrigens Herrn von Bethmann-Hollweg bei Ihnen entschuldigen, Herr Doktor Lepsius. Es war ihm heute leider unmöglich, Sie zu empfangen …«
    Lepsius lehnt sich weit zurück. Auch seine klangvolle Stimme ist müder und schärfer geworden:
    »Und welche Erfolge haben unsere Diplomaten zu verzeichnen, Herr Geheimrat?« Die blanke Marmorhand wühlt irgendwelche Dokumente aus dem Papierbau:
    »Sehen Sie! Da haben wir Herrn von Scheubner-Richter in Erzerum! Da haben wir Hoffmann in Alexandrette und den Generalkonsul Rößler in Aleppo. Die Leute berichten und berichten. Sie zerreißen sich für die Armenier. Gott weiß, wie viele Hunderte dieser Ärmsten der Rößler allein gerettet hat? Und was ist der Dank für seine Menschlichkeit? Die englische Presse stellt ihn als Bluthund dar, der die Türken in Marasch zum Massaker aufgereizt hat. Was soll man da tun?«
    Lepsius sucht jetzt den Blick des Liebenswürdigen, der hinter seiner Papierdeckung auftaucht und verschwindet wie ein launischer Mond hinter Wolken:
    »Ich wüßte schon, was man tun soll, Herr Geheimrat … Rößler und die andern, das sind lauter Ehrenmänner, ich kenne sie … Rößler ist außerdem ein ganz besonders feiner Kerl … Aber was kann solch ein kleiner bedauernswerter Konsul ausrichten, wenn er nicht die nötige Unterstützung findet?«
    »Na hören Sie mal, Herr Pastor? Keine Unterstützung? Das ist doch mehr als ungerecht.«
    Lepsius macht eine knappe nervöse Handbewegung, mit der er ausdrückt, daß die Sache zu ernst und die Zeit zu kurz sei, um mit höflichen Palavers verloren zu werden:
    »Ich weiß sehr gut, Herr Geheimrat, daß alles Erdenkliche geschieht. Die täglichen Interventionen und Demarchen der Botschaft sind mir wohlbekannt. Aber wir haben es ja nicht mit Staatsmännern zu tun, die in der Ehrfurcht vor den diplomatischen Spielregeln aufgewachsen sind, sondern mit Leuten wie Enver und Talaat. Für diese Leute ist alles Erdenkliche viel zu wenig und nicht einmal das Unausdenkliche genug. Die Ausrottung der Armenier ist das Palladium ihrer nationalen Politik. Ich habe mich in einem langen Gespräch mit Enver Pascha selbst davon überzeugen können. Ein ganzes Trommelfeuer von deutschen Demarchen wirkt auf diese Leute bestenfalls als Belästigung ihrer scheinheiligen Höflichkeit.«
    Der Geheimrat kreuzt die Arme. Sein langes Gesicht nimmt einen erwartungsvollen Ausdruck an:
    »Und wissen Sie, Herr Doktor Lepsius, einen anderen Weg, um sich in die inneren Angelegenheiten einer befreundeten und verbündeten Macht einzumischen?«
    Johannes Lepsius

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