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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nach, indes Gonzague davonstürmte und wie im Fluge den Punkt erreichte, wo sich der Berg gegen das Dorf Habaste herabsenkt. Laut atmend blieb er stehen. Es ist besser so. Die armenischen Kugeln hatten den letzten Hauch des Schuldgefühls weggefegt. Er lächelte. Seine Augen unter den stumpf gegeneinander gestellten Brauen waren voll Aufmerksamkeit und kühler Werbung vorwärtsgerichtet.
    In denselben Minuten schwebte Juliette unruhig zwischen Ohnmacht und Besinnung. Hatte jemand »Ja schlafe, schlaf nur, Juliette« gesagt? Und wessen Stimme? Und nun? Noch einmal, oder jetzt erst?
    »Ja, schlafe, schlaf nur, Juliette!«
    Sie öffnete die Augen. Das war doch nicht ihr Schlafzimmer. Dreißig Sekunden noch und sie hatte das Zelt erkannt und Gabriel und Iskuhi. Sie konnte die Zunge kaum bewegen. Ihr Gaumen, ihr Rachen waren ohne jedes Gefühl. Die Menschen störten sie in ihrer Einsamkeit. Die Menschen ließen sie nicht in Ruhe. Sie wandte ihren bergschweren Kopf zur Seite:
    »Warum laßt ihr denn die Lampe brennen … Löscht doch aus … Das Petroleum riecht … so unangenehm …«
    Juliettens Augen erstarrten. Sie hatten gesucht, was nicht zu finden war. Da wurde ihr auf einmal etwas Fürchterliches ganz bewußt. Sie schien all ihre Kräfte wieder zu haben und völlig gesund zu sein. Die Decke abwerfend, fuhr sie mit beiden Beinen aus dem Bett und schrie:
    »Stephan! … Wo ist Stephan? … Stephan soll kommen …«
    Gabriel und Iskuhi zwangen Juliette, die sich verzweifelt wehrte, wieder ins Bett zurück. Gabriel streichelte sie beruhigend und redete ihr zu:
    »Du bist krank, Juliette … Stephan darf nicht zu dir kommen. Es wäre sehr gefährlich für ihn … Du mußt vernünftig sein.«
    Ihr ganzes Leben, Hören und Begreifen lag aber nur in den gellenden Schreien, die sie unaufhörlich ausstieß:
    »Stephan … Stephan … Wo …«
    Der überbewußte Schreck, der aus der Kranken schrillte, übertrug sich plötzlich auf Gabriel. Er riß den Türvorhang zur Seite und stürzte durch die helle Nacht zum Scheichzelt, wo Stephan sein Nachtlager hatte. Das Zelt war leer. Bagradian zündete ein Licht an. Tot lag das Bett Monsieur Gonzagues da. Sein Inhaber hatte es in der peinlichsten Ordnung zurückgelassen. So glatt und genau sah es aus, als wäre es seit Wochen nicht benützt worden. Nicht so jedoch Stephans Bett, auf dem ein wüst-verkommenes Leben herrschte. Die Laken hingen herunter. Auf der Matratze lag der geöffnete Koffer des Jungen, aus dem Kleider, Hemden, Strümpfe in bunter Wirrnis hervorquollen. Die Proviantkiste in der Ecke war aufgebrochen und unachtsam beraubt worden, denn ein paar Sardinenbüchsen blinkten auf der Erde. Der Rucksack Stephans, eine Erwerbung aus der Schweiz, fehlte. Doch auch von Gabriels Sachen war die Thermosflasche, die er erst gestern aufs Tischchen gestellt hatte, unauffindbar verschwunden. Nachdem er den Raum noch einmal genau nach allen Spuren abgesucht hatte, ging er langsam in die Nacht zurück, blieb draußen mit leicht geneigtem Kopf stehen und dachte nach. Er suchte nach Erklärungen. Wahrscheinlich wieder ein ausbrecherischer Streich, den die verfluchten Bengel ausgeheckt hatten. Alles aber, was an dieser Erklärung gutartig und hoffnungsvoll war, löste sich in seinem tieferen Wissen höhnisch auf. Große Ruhe kam über ihn, wie immer in entscheidenden Stunden. Auf dem Schlafplatz der Dienerschaft fand er nur Kristaphor. Er rief den Verwalter an:
    »Kristaphor, auf! Wir müssen Awakian wecken. Vielleicht weiß er etwas. Stephan ist fort.«
    Diese Worte wurden ohne Erregung gesprochen. Der bekümmerte Verwalter wunderte sich über die Gelassenheit seines Herrn, nach all dem, was sich zugetragen hatte. Sie nahmen den Weg gegen den Nordsattel, um Samuel Awakian aufzufinden. Eine Sekunde lang drehte sich Gabriel nach Juliettens Zelt unentschlossen um. Dort war alles still geworden. Dann schritt er so rasch vorwärts, daß ihm Kristaphor kaum folgen konnte.

Drittes Buch Untergang
Rettung
Untergang
    Dem Sieger werde ich von dem verborgenen Manna geben
und werde ihm einen weißen Stein geben und auf dem Stein
einen neuen Namen geschrieben, den niemand kennt
als nur der, welcher ihn empfängt.
     
    Offenbarung Johannis 2,17

Erstes Kapitel Zwischenspiel der Götter
    »Hier, mein verehrter Herr Doktor Lepsius, sehen Sie nur einen ganz kleinen Teil unsres Aktenbestandes in der armenischen Sache …«
    Der liebenswürdige Geheimrat legt seine blanke schöngeäderte

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