Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
aus. Oskanian forderte teuflische Rache an Gonzague Maris: Man solle diesem Schurken vorerst den amerikanischen Paß und den Teskeré abnehmen, ihn dann völlig entkleiden, an Händen und Füßen fesseln und nachts von kühnen Männern ins Tal tragen lassen, damit ihn die Türken für einen Armenier hielten und langsam abschlachteten.
    Mit bestürztem Mißbehagen gingen die Männer über den tollen Ausbruch Hrand Oskanians hinweg. Aber der Lehrer ließ sich nicht so leicht abschütteln. Er begann allen Ernstes die unumgängliche Notwendigkeit der von ihm beantragten Strafe zu begründen. Ter Haigasun hörte den langatmigen Schwall nicht mit halb-, sondern mit ganzgeschlossenen Augen an. Seine Hände verkrochen sich fröstelnd in den Kuttenärmeln, was stets ein deutliches Zeichen seines Unwillens war:
    »Bist du nun endlich fertig, Lehrer?«
    »Nicht früher, als bis ihr die Wahrheit ebenso einsehen werdet wie ich!«
    Ter Haigasun machte eine belästigte Bewegung mit dem Kopf, um diese surrende Hornisse zu verscheuchen:
    »Ich glaube, zu diesem Fall ist kein weiteres Wort zu verlieren.«
    Oskanian schäumte auf:
    »Also der Führerrat will den Halunken mit Segenswünschen entlassen, damit er uns bereits morgen an die Türken verrät?«
    Ter Haigasun blickte gepeinigt zum Laubdach der Hütte empor, das im Winde raschelte:
    »Selbst wenn er uns verraten will, was könnte er verraten?«
    »Was er verraten kann? Alles! Die Lage der Stadtmulde! Die Weideplätze! Die Stellungen! Den schlechten Stand unserer Vorräte. Die Krankheit …«
    Ter Haigasun schnitt diese Aufzählung mit einer müden Handbewegung ab:
    »Mit solchen Neuigkeiten wird sich niemand bei den Türken einschmeicheln. Glaubst du wirklich, daß sie so dumm sind und diese Dinge nicht alle schon wissen? Ihre Kundschafter haben nicht vergeblich jeden Winkel abgesucht … Und außerdem ist der junge Mensch kein Verräter.«
    Die Worte des Priester fanden volle Zustimmung in der Runde. Hrand Oskanian aber schleuderte seine Fäuste verzweifelt vor, als wollte er das entwischende Opfer an einem Zipfel festhalten:
    »Ich habe einen Antrag gestellt«, krähte er, »und ich fordere, daß du diesen Antrag ordnungsgemäß abstimmen läßt.«
    Das wächserne Gesicht des Priesters bekam ein wenig Farbe:
    »Anträge kann jeder Schwätzer und Dummkopf stellen. Es ist aber einzig und allein meine Sache, diese Anträge zur Abstimmung zuzulassen. Überflüssige Anträge lasse ich nicht zur Abstimmung zu. Merk dir das, Lehrer! Es sitzt hier übrigens niemand, der deinen Antrag nicht für niederträchtig und verrückt hält. Wer andrer Ansicht ist, erhebe die Hand!«
    Nicht eine Hand rührte sich. Der Priester nickte abschließend:
    »Und damit ist es ein für allemal genug. Du hast mich verstanden.«
    Der Durchgefallene erhob sich stolz zu seiner geringen Höhe und wies in die Richtung des Platzes:
    »Unser Volk dort draußen hat eine andre Meinung als ihr …«
    Hatte das Benehmen Oskanians den Ekel und Unwillen Ter Haigasuns erregt, so entfachte diese demagogische Bemerkung seinen Jähzorn. Seine Augen flammten auf. Doch er beherrschte sich wieder:
    »Die Pflicht des Führerrates ist es, die Gefühle des Volkes zu lenken, nicht aber sich von ihnen lenken zu lassen!«
    Hrand Oskanian nickte mit entsagender Kassandramiene:
    »Ihr werdet an meine Worte noch zurückdenken …«
    Ter Haigasun hielt die Augen wieder gesenkt. Seine Stimme war sehr ruhig:
    »Ich würde dir dringend raten, Lehrer Oskanian, nicht uns, sondern dich selbst zu warnen.«
    In unerquicklichster Stimmung mußte man endlose Zeit auf die Rückkehr der Gesandten warten. Der kranke Apotheker kam noch früher als der Arzt. Er war völlig erschöpft und mußte sich stöhnend auf Ter Haigasuns Diwan ausstrecken. Erst als ihn der Priester mit zwei tiefen Zügen aus einer Rakiflasche gelabt hatte, fand er die Kraft, zu berichten. Gonzague Maris hatte ihm seine Mission dadurch erleichtert, daß er auch ohne feierliche Aufforderung längst schon bereit war, den armenischen Berg in dieser Nacht zu verlassen. Er würde mit dem Aufbruch nur bis zu einer verabredeten Stunde warten, um seiner Geliebten die Möglichkeit zu geben, sich zu retten. Der Apotheker konnte nicht umhin, die vornehme Haltung seines Gastfreundes zu loben, der ihm nicht nur alles Gedruckte, was er besaß, zum Geschenk gemacht, sondern überdies noch versprochen hatte, wohin immer er auch komme, für die Verfolgten des Musa Dagh wirksam zu sein.

Weitere Kostenlose Bücher