Die Vipern von Montesecco
Zucker ab und begann Marmelade einzukochen. Sie wurde immersicherer, daß etwas nicht stimmte. Um siebzehn Uhr schickte sie ihre ältere Tochter Sabrina los, um nach Giorgio zu suchen. Sie sollte bei den gepfropften Ölbäumen beginnen, obwohl Antonietta bewußt war, daß Giorgio dort höchstens eine halbe Stunde zu tun gehabt hatte. Kurz vor halb sieben war Sabrina unverrichteterdinge wieder da.
Antonietta band die Schürze ab und fragte in der Bar nach. Ivan hatte Giorgio den ganzen Tag noch nicht gesehen. Als Antonietta zurück war und gerade den Fliegenvorhang vor der Tür zur Seite schob, bog Paolo Garzones Lieferwagen in die Piazza ein. Paolo hatte das Fenster ganz nach unten gekurbelt und rief Antonietta an. Seine Stimme klang nicht anders als sonst, doch Antonietta wußte sofort, was los war. Sie spürte es.
Die letzten Jahre hatten sie mehr oder weniger gut nebeneinanderher gelebt, sie und Giorgio. Da waren die Kinder, da war die Arbeit, der Alltag, sie hatten ab und zu gestritten, da war alles mögliche gewesen, was plötzlich völlig unwichtig erschien. Ganz von selbst verblaßten die letzten Jahre, zerfielen zu Staub und waren wie weggeblasen von der Abendbrise auf Capri, wo sie barfuß am Strand entlanggegangen waren und zusammen geschwiegen hatten. Glühendrot war die Sonne versunken und hatte dem Meer die glatte Haut eingefärbt. Antonietta hatte Muscheln gesammelt – es gab schöne Muscheln auf Capri, rote, schwarze, orangefarbene, sanft marmorierte im Perlmuttglanz –, und wenn sie eine besonders schöne gefunden hatte, hatte sie sie Giorgio gezeigt und sich dabei leicht an ihn gelehnt, und er hatte sie in den Arm genommen, und sie, sie war glücklich gewesen.
Paolo parkte den Wagen vor der Anschlagtafel der Gemeinde und stieg aus.
Capri war ein wunderbares Fleckchen Erde. Besonders für die Flitterwochen. Eigentlich war es nur eine Woche gewesen. Das bedauerte Antonietta mehr als alles andere.Sie hätten sich wenigstens zwei Wochen gönnen sollen. Damals.
Antonietta spürte Paolos Hand sanft an ihrem Oberarm.
»Antonietta ...«, sagte Paolo mit rauher Stimme. Er sah sie verlegen an.
»Komm, setz dich irgendwo hin!« sagte er.
Sie schüttelte stumm den Kopf.
Paolo zog seine Hand von ihrem Arm zurück. Er nahm die Kappe ab.
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, sagte er. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf den Briefkasten, der an der Wand der ehemaligen Schule befestigt war. Das rote Blech leuchtete in der Abendsonne.
»Giorgio ist tot«, sagte Antonietta. Sie wußte nicht, ob in Giorgios letzten Sekunden noch einmal das ganze Leben vor seinen Augen abgelaufen war. Sie sah auf jeden Fall die Bilder aus ihren glücklichen Tagen vor sich, als wäre es gestern gewesen. Wie Giorgio sich stolz aufrichtete, als er nach Sabrinas Geburt den Olivenbaum gepflanzt hatte. Wie er ihr den viel zu teuren Diamantring an den Finger steckte, als er in der Lotterie gewonnen hatte. Wie er sie bei der Festa di San Lorenzo zum erstenmal zum Tanz aufgefordert hatte. Zu einem langsamen Walzer, bei dem er ihr zweimal auf die Füße getreten war. Giorgio war ein miserabler Tänzer gewesen. Antonietta lächelte.
»Es tut mir so leid«, brummte Paolo. Er zerknautschte die Stoffkappe zwischen seinen mächtigen Händen.
»Danke«, sagte Antonietta. Ihre Stimme klang falsch, tonlos, unbewegt. Es war ihr, als spräche jemand anderer.
»Er ist ...«
»Fahr mich hin!« sagte Antonietta. Sie wollte nicht wissen, wie es passiert war. Nicht jetzt.
Paolo Garzone nickte.
»Gib mir nur ein paar Minuten!« sagte Antonietta.
»Kann ich dir irgendwie ...?« fragte Paolo. Antoniettaließ ihn stehen und ging ins Haus. Am Tisch saß ihr Schwiegervater Carlo über die Zeitung gebeugt. Antonietta konnte jetzt nicht mit ihm sprechen. Mit niemandem wollte sie jetzt sprechen.
»Giorgio ist tot«, sagte sie und huschte die Treppe hoch. Aus dem Schlafzimmerschrank holte sie ihre schwarze Bluse und einen schwarzen Rock. Sie zog sich um und setzte sich einen Augenblick aufs Bett, weil ihr vor den Augen flimmerte. Das Licht bricht in Stücke, das Licht bricht in Stücke, flüsterte eine fremde Stimme in ihr, doch Antonietta hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie mußte zu Giorgio, mußte ihn sehen. Sofort. Sie stand auf, lief zur Schlafzimmertür, drehte noch einmal um und riß die oberste Schublade der Kommode auf. Sie steckte den Diamantring, den Giorgio ihr geschenkt hatte, an den Mittelfinger. Neben den
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