Die Visionen von Tarot
sprechen zu wollen.
„Vielleicht verrätst du mir die Art deiner Suche …“ schlug Maria mitleidig vor.
Daran klammerte er sich dankbar. „Ach … ja. Es ist … nämlich … dein Sohn Jesus … er wollte …“ Er konnte nicht weiter reden. Das war ja zu albern.
„Jesus ist im Augenblick nicht da“, meinte Maria. „Er befindet sich auf einer Mission bei den Lebenden, und wir haben seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gehört. Ich bin besorgt, wie es eine Mutter nur sein kann.“
„Er ist in der Hölle“, sprudelte es aus Bruder Paul heraus. „Er … ich sollte eigentlich dorthin, aber für unsere Freundschaft ist er anstatt meiner gegangen, und nun will ich ihn herausholen!“
Sie betrachtete ihn mit engelsgleicher Würde. „Du willst den Platz mit ihm tauschen?“
„Nein. Ich will, daß keiner von uns beiden in der Hölle ist. Ich habe den Eindruck, diese Entwicklung ist falsch gelaufen, denn auch ich gehöre nicht in die Hölle. Nicht aus dem Grund jedenfalls, den er annahm. Daher möchte ich ihn davon überzeugen und herausbringen … wenn ich ihn nur finden kann.“
Sie dachte nach. „Das wäre höchst ungewöhnlich. Die Hölle kann ihn nicht ohne seine Zustimmung dabehalten. Aber als seine Mutter bin ich natürlich besorgt, weil er leidet. Ich weiß, er ist recht willensstark. Ich kann mich erinnern, wie er als Junge von zwölf Jahren fortlief und sich mit den Tempelpriestern stritt … er hatte niemals viel für den Tempel übrig. Die Geldwechsler, du weißt …“ Sie ließ den Satz im Raum hängen, und erinnernd schweifte ihr Blick ab.
„Wenn ich nur mit ihm reden könnte“, sagte Bruder Paul.
Maria traf eine Entscheidung. „Ich denke, Gott hat nichts dagegen, wenn du eine kleine Entdeckungsreise in die Welt des Geistes unternimmst. Es gibt ständig neues Personal, sodaß wir fast den Überblick verlieren. Kannst du gut rechnen?“
„Mir ist es egal, wie viele Geister es …“ Er hielt inne, weil er ihren stummen Vorwurf erkannte. „Ja, rechnen kann ich“, sagte er.
„Aber du mußt sehr umsichtig sein“, warnte sie ihn. „Gott hat Aufregung nicht so gerne. Wenn irgend jemand Verdacht schöpft …“
„Genau das ist aber der Punkt. Ich will mich nicht einschleichen. Ich will einfach nur hingehen und reden …“
„Du wirst offen hineinkommen“, erwiderte sie. „Wenn du auf einen Paß von Satan warten willst, kann es ewig dauern. Bürokratische Verzögerungen sind eine Spezialität der Hölle. Aber als Forscher kannst du sofort anfangen.“
Das war offensichtlich ein üblicher Weg. Er würde sich darauf einlassen müssen. „Äh … gibt es eine Karte? Ich möchte mich nicht verlaufen.“
„Eine Karte brauchst du nicht“, versicherte sie ihm. „Im Paradies gibt es zehn Himmel, und jeder wird durch einen Planeten oder einen Stern bezeichnet, für die Engel, Heiligen, Rechtschaffenen, Krieger, Theologen, Liebende und so weiter. Du brauchst sie lediglich der Reihe nach hinabzusteigen und dir Notizen zu machen. Dann wirst du auf dem Gipfel des Berges ankommen, welcher das Purgatorium ist, mit den sieben Ebenen für die Lustvollen, Gierigen, Geizigen, Schlampigen, Wütenden, Neidischen und Stolzen. Dann, in der Erde, mußt du um Satan herum und den tiefst-innersten Ring der Hölle betreten – das eisige Reich der Verräter. Danach brauchst du lediglich in die weiteren Ringe abzusteigen. Insgesamt sind es neun, und in einem von diesen wirst du ihn finden.“ Sie sah ihn mit beunruhigender Intensität an. „Gib auf dich acht, Paul.“
„Das werde ich tun“, versprach er. Was war das nur mit ihr? Nicht, daß sie die Mutter Christi war – er hatte sie schon weinend am Fuß des Kreuzes gesehen, dort auf Golgatha, und sie hatte nicht diesen Zauber ausgestrahlt. Irgend etwas Persönlicheres …
Er schnitt diesen Gedanken ab. Schließlich gab es Wichtigeres zu tun. Er sah sich um – und Maria war verschwunden. Sie war zurück zu den himmlischen Heerscharen geflogen.
Nun gut. Er würde sich Dantes Paradies ansehen. Aber … wie konnte er diese funkelnden Myriaden zählen, geschweige denn, sie sich merken? Die Seelen aller Menschen, die jemals existiert hatten! Aber als er auf seinen Taschenrechner blickte, erschienen dort verschiedene Zahlen. Er rechnete ganz von allein und speicherte alles in den beiden Speichern. Er brauchte nur hinzusehen.
Er begann, den Hang hinabzugehen. Auch dieser schien aus geisterhaftem Material zu bestehen, so daß er ohne jegliche Gefahr
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