Die Visionen von Tarot
gelegentlich Bitten um finanzielle Unterstützung für das College, die von einem der Komiteemitglieder unterzeichnet waren. Es war nur ein Routineschreiben, doch die Unterschrift ärgerte mich, und ich habe nichts dazu beigetragen. Aber dieses Mal war ich an ihn herangetreten – und ihm konnte ich mich nicht bewußt verweigern. Jetzt scheint er der einzige von damals zu sein, der noch heute, zwanzig Jahre später, am College arbeitet.“
Zwanzig Jahre später? hörte Paul sich sagen, und er wunderte sich. Denn er hatte erst vor zehn Jahren seinen Abschluß gemacht. Nun wurde ihm auch das andere Rätsel wieder bewußt: Wie konnte dieses Kind nach einem Mann aus Bruder Pauls Vergangenheit fragen? Das war ein unwahrscheinlicher Zufall – aber irgendwie schien es auch zusammenzuhängen. Er konnte sich fast erinnern …
„Daddy, mir tun die Ohren weh!“ sagte Carolyn.
Die unmittelbare Realität schob seine Gedanken beiseite. „Das ist der Druck“, sagte er. „Wenn das Flugzeug niedergeht, wird die Luft …“ Aber sie verzog ihr kleines Gesicht vor Unbehagen; das war kein Zeitpunkt für eine vernünftige Erklärung. „Versuch, dir die Ohren zu blockieren“, sagte er. „Halt die Nase zu und blase. Fest. Fester!“
Schließlich klappte es. Sie entspannte sich und wischte sich eine Träne fort. „Das fand ich nicht schön“, meinte sie.
Er konnte es ihr nicht übelnehmen. Er selber hatte kein Unbehagen verspürt, aber er wußte, daß der Druck auf das Trommelfell schmerzhaft sein konnte, besonders bei einem Kind, das die Ursache nicht begriff.
Nun senkte sich das Flugzeug durch die Wolkendecke – und man sah die Straßen und Häuser von Boston.
Bruder Paul wußte, daß er sich nicht mehr auf dem Planeten Tarot befand. Zumindest nicht seiner Wahrnehmung nach; dies mußte eine neue Animation sein. Aber sie war sonderbar und folgte eher ihrer eigenen Richtung als seinem Willen. Will? War da ein Wortspiel? War es sein Wille, sich an Will zu erinnern?
Wenn dies bloß eine neue Vision war – wie würde er hiernach jemals wieder der Realität sicher sein können? Er war sich so sicher gewesen, aus einer Animation herausgekommen zu sein. Wenn es keine Möglichkeit gab, es genau festzustellen, ob er nun schlief oder wachte …
Und das Kind, Carolyn – war sie nur eine Halluzination? Das Sonderbare war, daß sie ihm allmählich bekannt vorkam, wenn er auch unverheiratet und kinderlos war. Wie konnte er sich also an sie erinnern? Die Manifestationen der Animationen konnten vielleicht die Welt seiner Sinne verändern, hatten aber bislang seine Verstandes weit unberührt gelassen. Sein fester Glaube an die Unantastbarkeit seiner grundsätzlichen Identität hatte ihn während dieses außergewöhnlichen Abenteuers aufrecht gehalten; wenn seine Selbsteinschätzung, seine Würde, sein Selbstbild ihn verließen oder irgendwie beeinträchtigt wurden, war er verloren. Er wollte nicht mit seinem Verstand spielen lassen.
Er konzentrierte sich und versuchte, aus der Vision auszubrechen. Carolyn drehte sich ihm mit großen blauen Augen zu. „Daddy … alles in Ordnung?“
Bruder Paul vergaß sein Vorhaben. Wenn er diese Vision verließ – was würde aus ihr werden? Vermutlich besaß sie außerhalb seiner Phantasie keinerlei Realität, aber irgendwie hatte er den Eindruck, sie sei in etwas gefangen, aus dem der Hauptdarsteller entflohen war. Entsetzlicher Gedanke! Er mußte sie sicher nach Hause bringen – oder wohin auch immer. Dann konnte er verschwinden. Entsprechend den Spielregeln.
Der Flughafen von Boston war wie jeder andere Flughafen auch in den Tagen vor dem großen Exodus von der Erde. Nur die Umgebung der Stadt schien verändert, zusammengeschrumpft. Aber nicht wie die meisten heutigen Städte, denn hier gab es noch Strom, und in den Wolkenkratzern brannte auch in den oberen Stockwerken Licht, was auf Bewohner schließen ließ. Sonderbar, sehr sonderbar!
Der Boden flog auf sie zu. Die Räder setzten auf. Das Flugzeug bremste und rollte schließlich langsam vor dem Gebäude aus. „Geschafft“, murmelte Bruder Paul.
Sie stiegen aus und befanden sich im Hauptankunftsgebäude. Den Tickets zufolge hatten sie nun einige Stunden Aufenthalt, ehe die nächste Maschine abging. „Können wir im Flughafen etwas essen, Daddy?“ fragte Carolyn.
Bruder Paul suchte in seinen Taschen und entdeckte, daß er genügend Bargeld bei sich hatte. Sie konnten also essen gehen. Die Preise waren hoch, und das Essen dafür war
Weitere Kostenlose Bücher