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Die Visionen von Tarot

Die Visionen von Tarot

Titel: Die Visionen von Tarot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Piers Anthony
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bereit. Dann segelten sie nach Osten zum Südpazifik, bis sie an der Westküste Amerikas landeten. Das war ihr Land der Verheißung – aber wie bei der ersten Kolonie, spalteten auch sie sich in zwei Stämme auf, die Nephiten und die Lamaniten. Die Nephiten vervollkommneten die Errungenschaften der Zivilisation und bauten blühende Städte, während die Lamaniten immer mehr herunterkamen. Sie vergaßen den Gott ihrer Väter, wurden zu wilden Nomaden, sanken herab im Geiste und bekamen dunkle Haut wie die verfluchten Kinder Kains.“
    „Die Kinder Kains?“ fragte Bruder Paul. Sie befanden sich nun mitten über dem Pazifik, immer noch auf dem Weg nach Osten.
    „Die Bösen. Die schwarze Rasse“, verdeutlichte Jesus.
    Bruder Paul war absolut erstaunt. „Meinst du die schwarzen Rassen Afrikas?“
    „Das ist das gleiche. Sie haben die Macht der Heiligen Priesterschaft geleugnet und das Gesetz Gottes mißachtet. So wurden sie mit der schwarzen Haut gestraft, die ihrem schwarzen Herzen entspricht.“
    Das sollte Jesus Christus gesagt haben? Das konnte nicht stimmen! Es mußte Lee, der Mormone sein. Bruder Paul hatte nicht gewußt, daß die Mormonen Schwarze in einem solchen Licht sahen. „Gewiß ist das ein Irrtum. Da alle Menschen außer Noah und seiner Familie in der Sintflut untergingen, können keine Nachkommen Kains überlebt haben.“
    „Es durchzog Noahs Stamm, dieses schlechte Blut“, beharrte Lee. „Harn, der Sohn Noahs, fürchtete, es würde nach der Flut weitere Nachkommen geben, die sich das Erbe der Erde teilen müßten, und er tat sich mit seinen beiden Brüdern Sem und Japhet zusammen, ihren Vater zu kastrieren. Doch diese weigerten sich, denn sie waren gute Söhne. So tat er es allein, als Noah betrunken war …“
    „In der Bibel steht nur, daß Harn seinen Vater nackt sah!“ protestierte Paul.
    „Man hat die Bibel zensiert“, sagte Lee dunkel. „Aber trotzdem kennen wir die Strafe: Die Kinder Harns wurden zu den Dienern der Kinder Gottes. So erhielt die schwarze Rasse das ihr gemäße Schicksal.
    „Ich habe auch schwarzes Blut“, sagte Bruder Paul. „Ich dachte, du wüßtest das.“ Aber er merkte nun, daß Lee bei der Schimpfkanonade, als dies zur Sprache gekommen war, nicht mitgespielt hatte, und sonst war dieses Thema nirgendwo berührt worden. „Bin ich auch verflucht?“
    Jesus hielt im Flug inne, und aus seinen Augen blickte der schockierte Lee. „Du hast schwarzes Blut?“
    „Ungefähr ein Achtel, wenn man es genau nimmt. Technisch gesehen bin ich hellhäutiger Negroider.“
    Jesus schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das kann nicht sein. Du bist ein guter Mensch!“
    „Ich hoffe, es zu sein oder es zu werden! Aber ich bin auch ein Schwarzer. Darin sehe ich keinen Widerspruch.“
    „Nein!“ rief Jesus. „An heiligen Orten darf keine Korruption geduldet werden. Habe ich vielleicht die Geldverleiher aus dem Tempel geworfen, nur um durch eine solche Situation beleidigt zu werden? So darfst du nicht scherzen, Paul!“
    Bruder Paul breitete die Hände aus. „Ich bin weder gern ein Spaßmacher noch ein Lügner. Tut mir leid, wenn dich das betrübt, aber ich kann und will meine Ahnen nicht verleugnen.“
    Jesus/Lee wandte sich ihm mit sonderbarem Blick zu – Unglaube, der sich zu Zorn verwandelte. „Das werden wir ein andermal besprechen.“ Dann wandte er sich ab, und Bruder Paul spürte ein kaltes Gefühl im Innern, als habe sich etwas zurückgezogen, als habe jemand eine bereits angebotene Freundschaft für nichtig erklärt. Bruder Paul hatte gedacht, gegenüber einer derartigen Reaktion gefeit zu sein, merkte aber, daß es weh tat. Lee war ein so intelligenter, aufrechter, klarer Charakter – wie konnte er nur bewußt ein solcher Rassist sein? Wie brachte er dies mit seinem Bild von Jesus in Einklang, der allen Menschen die Erlösung verhieß, ungeachtet ihrer Abstammung oder früherer Sünden?
    Dann erkannte er das Reaktionsmuster: Ähnlich wie bei jemandem, der merkt, daß sein Tod bevorsteht. Zuerst Unglaube, dann Wut. Lees Mormonenreligion verdammte die schwarze Rasse. Die Erkenntnis, jemand, der ihm nahestand, habe schwarzes Blut, wie wenig auch immer im Vergleich zu den weißen Ahnen – das war grundsätzlich unerträglich.
    Es würde seine Zeit brauchen, bis Lees Gefühle wieder ins reine kämen, insbesondere, weil seine Rolle als Jesus kaum etwas anderes duldete. Aber Bruder Paul fürchtete, einen Freund verloren zu haben.
    Jesus schoß plötzlich nach unten, und

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