Die Visionen von Tarot
ihre Augen glänzen. Dann wandte sie sich um und lief auf die Stadt zu.
„Aber ist das historisch?“ fragte Bruder Paul, als sie wieder allein waren.
„Habe Vertrauen“, antwortete Jesus. „Genau wie beim Senfsamen.“
Im Verlauf der nächsten Tage erschien Jesus mehreren Leuten. Dann zogen sie in Jesu Heimat nach Galiläa und er erschien wiederum vielen. Schließlich kehrte Jesus nach Jerusalem zurück. „Hier müssen wir uns schließlich trennen“, sagte er zu Bruder Paul. „Es ist an der Zeit, daß ich an Pfingsten meinen Jüngern den Geist übertrage, damit sie mein Werk auf der Erde fortsetzen.“
Aber als dies geschehen war, blieb ein kleiner Teil der Aura übrig. „Das verstehe ich nicht“, sagte Jesus. „Ich hatte gedacht, schließlich würde ich davon befreit.“
Plötzlich schoß es Bruder Paul in den Sinn. „Der heilige Paulus!“
„Willst du ein Heiliger werden, Freund?“
„Nicht ich! Paulus von Tarsus, der Pharisäer. Du kennst ihn vielleicht als Saulus.“
„Ich kenne keinen Saulus von Tarsus, und ich bezweifle, daß ich den Rest des Geistes einem Pharisäer geben werde.“
„Glaube mir“, erwiderte Bruder Paul. „Wir müssen nach Damaskus.“
„Freund, ich fürchte um deinen Verstand“, sagte Jesus. „Aber ich sehe an deinen Gedanken, daß es sein muß. Ich werde diesen Pharisäer von Tarsus kennenlernen.“
IX
Wechsel Trumpf 17
Der Mensch wird geboren, um zu sterben. Vielleicht ist er allein von allen Tieren der Erde sich dieses unvermeidlichen Ablebens bewußt. Diese Tatsache kann man in der Tat als den Fluch vom Baum der Erkenntnis ansehen. In dem Augenblick, als sich der Geist des Menschen über die Ignoranten, geduldigen Tiere emporhob, um sein Los durch die ihm ermöglichte Vorausplanung zu verbessern, war er in der Lage, sein Schicksal, das die Natur für ihn bereithielt, zu erkennen.
Psychologen sagen, wenn eine Person mit vorzeitigem Tod konfrontiert wird, durchwandert sie normalerweise fünf Stadien. Das erste lautet ABLEUGNEN : Sie weigert sich schlicht, diese schreckliche Tatsache zu glauben. Das zweite ist WVT : Warum passiert das mir und nicht anderen? Es ist einfach nicht fair, und man ist wütend. Das dritte ist FEILSCHEN MIT GOTT ; Sie betet zu Gott um Verschonung von diesem Urteil und verspricht, sich zu bessern, wenn nur ihr Leben gerettet wird. Manchmal wird sie wirklich verschont, und manchmal löst sie das Versprechen auch ein. Aber wenn dieser Appell scheitert, gelangt sie zum vieren Stadium: D EPRESSION . Warum soll man weitermachen, wenn das Urteil absolut ist und es keinen Ausweg gibt? Doch schließlich gelangt sie zum fünften Stadium: AKZEPTIEREN . Mit der Situation im reinen, ordnet sie die weltlichen Dinge und bereitet sich auf das Ende vor.
Die Annahme scheint plausibel, daß sich das ganze Leben des Menschen auf ähnlichen Bewußtseinsstufen abspielt, auch wenn der Tod nicht vorzeitig erwartet wird. Als Kind leugnet man den Tod: Er liegt jenseits der Vorstellung. Aber wenn man reifer wird, zwingt einem der Tod von Verwandten, Freunden, Bekannten oder auch Fremden das Bewußtsein von der Realität des Todes auf, und man reagiert wütend, indem man sich verschiedenen, den Tod herausfordernden Tätigkeiten hingibt, um seine Unverletzlichkeit zu beweisen. Mit fortschreitender Reife wird es subtiler: Der Mensch wird religiös und akzeptiert die These, daß der körperliche Tod nicht das Ende bedeutet, sondern nur einen Wechsel, eine Transformation zum ‚Nachleben’. Vielleicht entspringen sämtliche Religionen diesem Trieb, den Tod zu negieren: Man kann nicht mit Gott feilschen, wenn Gott nicht existiert. Doch die Angst vor dem Tod wird durch die Religion nicht vollständig aufgehoben. Man erkennt die Dienste der verschiedenen Kirchen lediglich als Rituale an, und das Vertrauen schwindet. Das unvermeidliche Näherrücken des Todes in Form fortschreitenden Alters deprimiert den Menschen. Doch am Ende resigniert er, paßt sich an, macht sein Testament, sorgt für die Verteilung der Hinterlassenschaft und scheidet mit einer gewissen Würde. Er hat das Unvermeidliche akzeptiert.
Sie standen auf der Straße nach Damaskus und starrten in die Richtung, in die Paulus von Tarsus gegangen war. Der Mann, durch sein Leiden bereits lahm und gezeichnet, war durch das Erlebnis geblendet worden, und es ging ihm schlecht. Doch Bruder Paul wußte, er würde sich wieder erholen. Bruder Paul selbst war durch die Begegnung mit diesem Mann,
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