Die vollkommene Lady
Genocchios wären nicht nur künstlerisch begabt,
sondern auch geschäftlich nicht untüchtig. Im Laufe von zweihundert Jahren war
nicht einer auf Gemeindekosten begraben worden. Selbstverständlich hatten sie
ihre guten und ihre schlechten Zeiten gehabt — welche Familie hatte das nicht?
Denken Sie doch nur an die Bourbonen! — Aber während des letzten Jahrhunderts
hatte es ihnen nie an einem eigenen Dach über dem Kopf, noch an einem
Bankguthaben gefehlt...
„Sie müssen großartige Ehemänner abgeben“,
sagte Julia aufrichtig.
„Das tun wir wohl. Und wenn wir
heiraten, dann bleiben wir auch dabei. Bei uns gibt das keinen ewigen Wechsel.
Wenn Pa nicht vor sechs Monaten gestorben wäre, würde Ma jetzt auch nicht bei
uns sein. Anfangs schien sie gar nicht darüber wegzukommen, aber dann fand sie
Spaß daran, uns zu begleiten, und wir dachten, es würde sie etwas aufheitern.
Aber es war ein Fehler“, schloß Fred trübe. „Sie hat schon immer mit dem Magen
zu tun gehabt.“
Er verfiel in Schweigen, offensichtlich
mit beruflichen Sorgen beschäftigt. Um ihn abzulenken, erkundigte sich Julia
nach der jüngsten Generation; aber sein Kummer vertiefte sich nur.
„Bob und Willie sind zwar glücklich
verheiratet, aber sie haben jeder nur eine kleine Tochter. Beide sehr hübsche und
aufgeweckte kleine Mädchen, aber trotz des Namens, es ist sehr schwer, aus
einer Frau eine wirklich erstklassige akrobatische Leistung herauszuholen. Sie
lernen tanzen.“ Fred seufzte. „Ich sollte selber heiraten. Doch vor sechs
Jahren gab es ein Mädchen.“
Julia drückte seine Hand. Sie konnte es
nicht unterlassen, und er faßte es so auf, wie es gemeint war.
„Sie fiel ganz richtig in das Netz,
aber sie muß sich innerlich was getan haben. Ich glaube, sie wünschte, es wäre
gar kein Netz dagewesen. Jedenfalls starb sie drei Monate später, und ich war
nahe daran, das ganze Theater zu hassen.“
„Ich wundere mich, daß Sie es nicht
aufgegeben haben“, sagte Julia.
„Aufgegeben?“ Er sah sie überrascht an.
„Natürlich hab’ ich es nicht aufgegeben, aber es brachte mich ziemlich aus der
Fassung, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Ich will nicht behaupten, daß
ich seitdem keine Frau mehr angesehen habe, weil es nicht wahr ist; aber
heiraten war eine ganz andere Sache.“
„Ich glaube kaum“, sagte Julia
freundlich, „daß sie von Ihnen erwartet hat, daß Sie nie...“
„Das hat sie auch nicht. Kurz bevor sie
starb, sagte sie: ,Grüß’ deine Frau von mir, Fred.* Wörtlich genau so. Hallo,
das habe ich nicht gewollt!“
Denn Julia weinte bereits. Kein Gedanke
an ihr Aussehen hatte je ihrem empfindsamen Herzen Einhalt zu gebieten
vermocht, und die Tränen vermischten sich mit ihrem Rouge, so daß Freds
Taschentuch lauter rosa Flecken bekam. Als sie schließlich ihre Nase putzte,
sah sie fünf Jahre älter aus, aber Fred schien das nichts auszumachen. Er legte
ihr einen Arm um die Schulter und versuchte selbst, ihr die Augen zu trocknen.
„Nein“, schluchzte Julia, „bitte gehen
Sie doch und sehen Sie einmal nach Ma. Ich möchte mein Gesicht in Ordnung
bringen.“
Er ging sofort — der vollkommene Gentleman.
Als Julia allein war, versiegten ihre Tränen rasch. Sie hinterließen in ihr nur
ein angenehmes Gefühl der Rührung, und Julia vertiefte sich ohne irgendwelche
traurigen Nebengedanken in Spiegel und Puderdose. Zweifellos genoß sie diese
Reise außerordentlich. Ihr Kummer, völlig echt, solange er andauerte, war nur
eine weitere zufällige Begebenheit auf einer in jeder Beziehung interessanten
und abwechslungsreichen Überfahrt. Sie hätte ihn nicht missen wollen. Selbst
das eilige Zurechtmachen ihres Gesichts machte ihr Spaß, und statt ihres mehr
dezenten Packett-Lippenstifts benutzte sie nun einen neuen, kußfesten von
scharlachroter Farbe. Die Wirkung war auffallend, aber als Mr. Genocchio
zurückkehrte, schien er auch das nicht zu bemerken.
„Ich mache mir Sorgen um Ma“, sagte er
bedrückt. „Es geht ihr immer noch schlecht.“
Julia sah teilnehmend auf.
„Und was noch ärger ist, sobald die
Würgerei endlich aufgehört hat, wird sie einschlafen. Joe, dieser Dummkopf, hat
so viel Kognak in sie reingegossen, als ob er eine Karaffe vor sich gehabt
hätte. Wenn Sie mich fragen“ — er warf sich auf den Sitz — „sie wird heute
abend nicht auftreten können.“
„Na, wenigstens ist sie doch bei Ihrem
Akt nicht unentbehrlich, nicht wahr?“ fragte Julia in dem Bemühen, ihn zu
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