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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
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Bretter unter ihren Füßen, der Geruch der Bühne in ihrer
Nase, das Geräusch des Beifallklatschens in ihren Ohren — alles vereinigte
sich, um Julia in einen rauschartigen Zustand zu versetzen. Wie jede gute
Schauspielerin, übertraf sie sich selbst ein bißchen. Ihre Persönlichkeit war
über sich hinausgewachsen; und nur ein tief eingewurzeltes berufliches
Pflichtbewußtsein hielt sie davon ab, sich allzusehr in den Vordergrund zu
drängen. Sobald die Truppe eine neue Stellung eingenommen hatte, verschwand sie
in der Kulisse und tauchte nicht eher wieder auf, bis die letzte Welle vom
Applaus verebbt war. Trotzdem empfand sie Reue.
    „Ich kann es nicht ändern“, flüsterte
sie Fred in einem Augenblick zu, als er gerade nicht auftrat. „Ich weiß, ich
hätte nicht antworten sollen, aber ich konnte im Augenblick nicht daran denken.“
    Er hatte keine Luft übrig, um ihr etwas
darauf zu erwidern — wie Julia an dem prächtigen Spiel seiner Brustmuskeln
sehen konnte —, aber sein Lächeln besagte genug. Es war alles in bester
Ordnung, er machte ihr keine Vorwürfe; und als sie sich zum Schluß mit den
anderen verbeugte, zog er seinen Arm durch den ihren und preßte sie eng an
sich.
    „Sie waren großartig!“ murmelte er,
während der Vorhang auf- und niederging; und bei der Berührung seiner Wange,
als er ihr das zuflüsterte, durchlief Julia ein köstlicher Schauer. Das, dachte
sie, das war Leben! Die schlechte Luft war für sie ein balsamischer Duft; die
Leute im Zuschauerraum — gut oder schlecht, sauber oder schmutzig — waren ihre
Freunde, Menschen wie sie, die ihre Freude teilten. Soweit Julia überhaupt eine
Verbundenheit mit der Natur empfand, empfand sie sie jetzt; und wenn die Natur,
der sie sich so verbunden fühlte, ausschließlich menschlich war und daher nach
allgemeiner Annahme nicht so rein und nicht so erhaben wie die sogenannte
seelenlose, so lag das an den Umständen. Die Bäume und die Berge warteten auf
sie in Savoyen.
     
    *
     
    Dreihundert Meilen weit entfernt setzte
sich die alte Mrs. Packett auf und sah nach der Uhr. Es war halb zehn vorbei;
sie war frühzeitig schlafen gegangen. Susan veranlaßte ihre Großmutter immer,
früh zu Bett zu gehen, wenn am nächsten Tage etwas Besonderes bevorstand — und
am nächsten Tage sorgte sie stets dafür, daß sie möglichst lange liegenblieb.
    „Zu töricht!“ sagte die alte Mrs.
Packett laut und streckte sich zwischen den kühlen, lavendelduftenden Bettlaken
aus. Ihr alter Körper fühlte sich straff und kräftig — ein bißchen steif in den
Gelenken, aber durchaus in der Lage, abends lange aufzubleiben. Sie war wohl am
Nachmittag etwas nervös gewesen, doch wer wäre das nicht in Anbetracht einer
wieder auferstandenen Schwiegertochter, die einen zu überfallen drohte? Hatte
sie nicht schon den ganzen Tag einen fremden jungen Mann im Hause? Ich bin
nicht hergekommen, um Hausbesuch zu haben, dachte sie verärgert; ich kam
hierher, um Ruhe und Frieden zu haben, und für Susans Französisch. Aber Susan
benahm sich zum ersten Male unvernünftig: anstatt sich weiter mit ihrem Molière
zu beschäftigen, mußte sie sich da unbedingt verlieben und die alberne Haltung
einer Märtyrerin annehmen und lächerliche Briefe an eine Mutter schreiben, die
sie kaum gesehen hatte! Mrs. Packett fürchtete Julia nicht mehr; Susan war, wie
niemand besser wußte als ihre Großmutter, über das Alter hinaus, in dem sie auf
andere hörte; aber einer förmlichen Aufforderung, sich in eine
Familienangelegenheit zu mischen, konnte natürlich keine normale Frau
widerstehen...
    Ich lasse Susan regieren, dachte Mrs.
Packett. Das tut uns beiden nicht gut. Dann lächelte sie unwillkürlich; Susans
Regiment war sehr angenehm. Man kam sich niemals überflüssig vor. Es machte sie
richtig wieder jung. Susan war sehr wählerisch, zum Beispiel auch, was die Hüte
ihrer Großmutter anbetraf. Sie steuerte immer geradenwegs auf die
Modellabteilung zu und wollte unter zwei Guineen nie etwas ansehen. Einmal
hatte sie die alte Dame gezwungen, fünf Guineen für einen ganz einfachen
Strohhut mit einer Samtgarnierung auszugeben. „Es ist die Linie“, hatte
Susan erklärt. „Wie ein Romney siehst du darin aus.“ Mrs. Packett ließ sich
immer von ihr überreden. Sie hatte immer noch eine Schwäche für Wolljacken und
kleine Spitzenjabots, aber ihre Hüte waren bewunderungswürdig...
    Julia hat sich nie darum gekümmert,
dachte Mrs. Packett plötzlich. Julia hatte sich überhaupt

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