Die vollkommene Lady
ist dort besonders
schön“, fuhr Julia fort, weil sie meinte, daß Haute Savoie nicht genügend
Eindruck gemacht hatte. „Berge, und was so alles dazu gehört. Ich habe sehr
viel für die Natur übrig.“
„Genau wie Ma“, sagte Mr. Genocchio. „Wenn
ich mit ihr nach Richmond hinausfahre, freut sie sich immer wie ein
Schneekönig.“ Er blickte sich wieder nach der Gruppe um, da er sich offenbar
von neuem seiner gegenwärtigen Sorge bewußt wurde, und die anderen winkten ihn
sogleich zu sich. Doch ließ selbst der betrübliche Anblick, der sich ihm
darbot, ihn seine gesellschaftlichen Manieren nicht vergessen. „Das ist Mrs.
Macdermot, Ma. Sie war so freundlich—“ Aber Julia hatte inzwischen den Irrtum,
der ihr unterlaufen war, bemerkt.
„Packett“, verbesserte sie in
bestimmtem Ton.
„Mrs. Packett, Ma.“ Fred nahm ihren
Einwurf hin, ohne irgendwelche Überraschung zu zeigen. „Sie war so freundlich,
uns ihre Hilfe anzubieten.“
„Mir kann niemand mehr helfen“,
jammerte Ma in ihrer Qual. „Ich wollte, ihr würdet mich alle in Ruhe lassen.
Ich sterbe, ich weiß es, und sie wollen mir das Korsett aufschnüren.“
Die fünf Männer blickten erst einander
und dann Julia an. Diese Frauen, schien dieser Blick zu sagen, diese Frauen!
„Sie werden es aber nicht tun“, sagte
Julia. „Je mehr Halt Sie haben, desto besser, das habe ich Mister Genocchio
gleich gesagt.“
Mr. Genocchios Mutter — denn das war
sie wirklich — stöhnte nur von neuem auf. Sie war keinerlei Trost mehr
zugänglich, selbst nicht dem Trost, daß man sie in ihrem Stangenkorsett sterben
lassen würde. „Geht doch weg“, ächzte sie, „geht weg und laßt mich allein.“
Da konnte man eben nichts machen.
Einige Minuten blieben sie noch teilnahmsvoll, aber hilflos bei ihr stehen wie
Zuschauer vor einem Pferd, das auf der Straße hingestürzt ist. Dann hakte sich
Fred bei Julia ein und zog sie langsam mit sich fort.
„Sie hat recht“, sagte er. „Wir können
nichts tun. Gehen wir lieber nach unten etwas trinken.“
*
Als sie in der Bar Platz nahmen,
erkundigte sich Julia, die angesichts von so viel Elend noch voller Mitgefühl
war, ob Ma selbst der sechste der fliegenden Genocchios sei.
Fred schüttelte den Kopf.
„Nein, Ma fliegt nicht. Mein alter Herr
war der sechste, und wir haben das auf der Karte noch so beibehalten. Ma
wechselt nur die Nummernschilder aus, wissen Sie, im Trikot. Und, unter uns,
die Zeiten, wo sie’s tragen konnte, sind vorbei.“
„Ich finde, daß es überhaupt nicht
gerade sehr kleidsam ist“, sagte Julia taktvoll. „Wenigstens nicht für eine
Frau. Bei einem Mann mit einer guten Figur ist das etwas anderes.“
„Sie sollten unseren Akt sehen“, sagte
Mr. Genocchio.
Mit seiner geschickten
Taschenspielergeste zauberte er aus der Luft einen Fächer von Fotografien in
Postkartenformat. Alle bis auf eine zeigten die sechs fliegenden Genocchios in
verschiedenartigen erstaunlichen Stellungen — fliegender Wechsel am hohen
Trapez, an den Zähnen hängend und ähnliches mehr; die oberste Karte war Fred
allein gewidmet. Prachtvoll sah er aus: im schwarzen Trikot hob er sich als
langes, schlankes, vollkommen proportioniertes Dreieck, das sich von den
breiten Schultern bis zu den schmalen Füßen makellos verjüngte, von einem
hellen Hintergrund ab. Julia war ganz Bewunderung: sie hatte es nicht nötig,
ihr mit Worten Ausdruck zu geben, ihre Augen sprachen beredt genug.
„Sie sollten heute abend wirklich
hinkommen“, sagte Fred ernst. „Wann geht Ihr Zug?“
„Elf Uhr vierzig“, sagte Julia; aber
sie zögerte. Dieser fünfstündige Aufenthalt in Paris war von ihr bereits ihrem
Buch geweiht worden. Sie hatte die Absicht gehabt, sich in den Wartesaal I.
Klasse zu setzen, verloren in eine Welt der Literatur, während begeisterte und
begeisternde Franzosen sie vergeblich daraus zu entführen versuchten. So sollte
ihre Reise eigentlich beginnen, dachte sie, denn sie hatte den Ausgangspunkt
schon bis zur Gare du Lyon hinausgeschoben. Wenn sie mit den Genocchios ins
Kasino ging, mußte dieser Punkt noch weiter hinausgeschoben werden — also genau
bis elf Uhr vierzig —, was ihr sehr viel weniger übrigließ, um sich in ihrer
neuen Rolle einzuspielen. So unzuverlässig sie auch in allen anderen Dingen war
— besonders in Herzensangelegenheiten —, so brüstete sich Julia doch damit,
eine gewissenhafte Künstlerin zu sein; und nun waren diese beiden Seiten ihres
Wesens wieder bei
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