Die Wächter von Jerusalem
gelingen, seine steif gefrorenen Glieder wieder zu erwärmen.
Es kam ihm vor, als wären Stunden vergangen, seit er über die Mauer geklettert war. Doch in Wahrheit konnten es nur wenige Augenblicke gewesen sein, denn nachdem er sich aus dem Stroh befreit hatte, erreichte er die Tür seines Schlafsaales genau in jenem Moment, als der Wachhabende auf dem Turm zum Zapfenstreich blies.
Gerade noch rechtzeitig, dachte Rashid und ging zuerst in den an den Schlafsaal angrenzenden Waschraum. Er war leer. Die benutzten Waschschüsseln standen ordentlich aufgestapelt in einer Ecke, die leeren Wasserkrüge in einer Reihe daneben . Die Kameraden waren offensichtlich bereits mit ihrer Abendreinigung fertig. Durch die nur angelehnte Tür des Schlafsaales drangen ihre Stimmen und ihr Gelächter zu ihm.
Sie haben es gut, dachte er, während er seine Kleider auszog und aus einem der noch verbliebenen Krüge Wasser in eine Schüssel goss. Sie wissen nicht, was ich weiß.
Er begann sich das Gesicht zu waschen. Das Wasser schien ihm so eisig, als würde er seine Hände in einen Gebirgssee tauchen , dabei machte ihm das kühle Wasser normalerweise gar nichts aus. Doch heute war wohl alles anders. Er fror erbärmlich . Rashid stützte sich auf den Rand des Waschtisches und versuchte mühsam seine Fassung zu bewahren. Was sollte er jetzt tun? Was er gehört hatte, war zu wichtig, als dass er es für sich hätte behalten dürfen. Aber wem konnte er sich anvertrauen ? Wem konnte er überhaupt noch trauen? Sollte er zuerst mit seinem Freund Yussuf sprechen? Oder sollte er vielleicht direkt zu Özdemir gehen?
Da tauchte plötzlich ein Gedanke auf, ein Gedanke, so einleuchtend , dass er sich wunderte, weshalb er ihm nicht schon eher gekommen war.
Warum sollte er sich nicht ganz einfach an Omar wenden ? Und an Ibrahim. Warum sollte er den beiden nicht erzählen , dass er sie belauscht habe? Selbstverständlich würde er schweigen – wenn sie ihm dafür ein Angebot machten. Zum Beispiel könnten sie ihn als Gegenleistung aus den Reihen der Janitscharen entlassen. Özdemirs und Jerusalems Schicksal konnte ihm gleichgültig sein. Er würde ohnehin mit Anne die Stadt so bald wie möglich verlassen. Vielleicht konnten sie in Annes Heimat gehen und dort leben. Warum machte er sich überhaupt noch Sorgen? Das belauschte Gespräch verschaffte ihm die Gelegenheit, alle Probleme mit einem Schlag zu lösen.
Rashid hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als sich seine Eingeweide bereits zu verkrampfen begannen. Ihm wurde übel, und seine Wangen brannten vor Scham und Wut. War das wirklich sein Gedanke gewesen? Hatte er tatsächlich in Erwägung gezogen, das Leid und den Tod vieler in Kauf zu nehmen, nur um selbst schneller an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen? Er schloss die Augen und tauchte das Gesicht in das eiskalte Wasser, so lange, bis keine Luft mehr in seinen Lungen war. Erst dann kam er wieder hoch und atmete tief ein. Er rieb sich mit beiden Händen das Wasser aus den Augen. Es machte ihn fassungslos, wie tief ein Mensch sinken konnte. Und es fiel ihm schwer zu begreifen, dass dieser Mensch er selbst war.
In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und Yussuf kam herein. Als er Rashid sah, lächelte er.
»He, Rashid, wo hast du denn gesteckt?«, rief er. »Wir haben dich schon vermisst.«
Rashid wollte nicht antworten. Er wollte mit niemandem reden, er wollte niemanden sehen. Er wollte jetzt allein sein. Erneut tauchte er seinen Kopf in die Waschschüssel und spürte dennoch, wie die Kälte in ihm allmählich von der Hitze des Zorns vertrieben wurde. Rashid überlegte kurz, ob er Yussuf bitten sollte zu gehen, solange er sich noch unter Kontrolle hatte. Dann verwarf er den Gedanken jedoch wieder. Er hatte jetzt keine Lust, auch nur ein Wort zu sagen. Vielleicht verschwand Yussuf von selbst.
»Warst du bei den Pferden?«, fragte Yussuf und kam unglücklicherweise näher. »Da ist Stroh in deinem Haar.«
»Ja«, antwortete Rashid, wobei er sich Mühe geben musste , ruhig zu sprechen. Was ging es Yussuf an?
Yussuf trat nahe an ihn heran und zog vorsichtig etwas aus seinem Haar. Dabei streifte seine Hand leicht Rashids Schulter. Es war eine kurze, gewiss unbeabsichtigte Berührung , doch sie war wie ein brennender Docht, der in ein Fass mit Lampenöl gefallen war. Heiß und grell wie eine Stichflamme loderte Rashids Zorn auf. Und seine ganze Wut, Omar und Ibrahim, ihren abscheulichen Plan und seine eigenen, kaum weniger
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