Die Wächter von Jerusalem
zog die Vorhänge an seinem Fenster zurück. Es war unerhört früh, denn im Innenhof lag noch der feuchte Dunst des frühen Morgens . Tau glitzerte und funkelte auf den Blättern und Blüten der Pflanzen wie Diamantenstaub. Es war ein zauberhafter Anblick, der ihn an Florenz erinnerte, an einen Morgen im September, wenn die Tage noch warm waren und alles noch in üppiger Blüte stand, obwohl sich bereits die Agonie des Herbstes in die Farben der Blumen und Bäume schlich und die Nächte mit ihrer überraschenden Kälte vom unausweichlich nahenden Winter zu erzählen begannen.
Anselmo erschauerte. Der Anblick konnte ihn heute weder erfreuen, noch erzeugte er Heimweh. Die ihm bevorstehende Aufgabe überlagerte jede andere Empfindung. Und wieder war nur ein Gedanke in seinem Kopf, ein Gedanke, der ihn in der Nacht durch Wachen und Schlafen begleitet hatte: Warum ausgerechnet ich?
Er seufzte tief und begann sich anzuziehen. Grübeleien hatten keinen Zweck. Er wusste , dass Cosimo Recht hatte. Er wusste, dass es niemanden außer ihm gab, der diese Aufgabe erledigen konnte. Er wusste, dass Giacomo de Pazzi ein gefährlicher Mann war, dem man mit allen nur erdenklichen Mitteln das Handwerk legen musste. Trotzdem wehrte er sich gegen das, was von ihm verlangt wurde.
Cosimo hat gut reden, dachte er bei sich, während er sein Zimmer verließ und in das Speisezimmer ging. Er braucht sich nicht mit Elisabeth abzugeben. Er muss sich ihr nicht mit Schmeicheleien nähern. Und doch weiß er, dass ich es tun werde. Ebenso wie ich es weiß.
Das Speisezimmer war leer und verlassen. Es stand noch nicht einmal das Geschirr für das Frühstück bereit. Offensichtlich war er an diesem Morgen so früh aufgestanden, dass Elisabeth und Esther noch nicht damit begonnen hatten, alles für das Frühstück der Herrschaften vorzubereiten. Das würde ihm Zeit verschaffen, vielleicht sogar genug Zeit, um sich auf eine geeignete Strategie vorzubereiten. Er atmete tief durch und ging zum Fenster. Der Garten sah von hier unten fast noch schöner aus als vom ersten Stockwerk. Zarte Nebelschleier hingen zwischen den Bäumen, Sträuchern und Blumen . Und er hätte sich nicht gewundert, wenn er zwischen dem üppigen Grün die Gesichter von Elfen, Feen oder Kobolden entdeckt hätte.
Die Tür öffnete sich. Anselmo wandte sich um und sah Esther . Das junge Mädchen stand, mit einem Stapel Teller und Schalen im Arm, wie angewurzelt in der Tür und starrte ihn an, als wäre er einer der Kobolde aus dem Garten, der sich ins Haus verirrt hatte. Dann lief ihr Gesicht dunkelrot an.
»Herr …«, brachte sie leise hervor und senkte sofort den Blick, als würde sie sich dafür schämen, ihn überhaupt angesprochen zu haben.
»Guten Morgen, Esther«, sagte Anselmo freundlich. Für gewöhnlich machte ihn Esthers Schüchternheit ungeduldig und wütend, aber heute fand er das gar nicht so schlimm. Im Gegenteil. Esther war hübsch. Sie war klein und zierlich und hatte wunderschönes, fast schwarzes Haar. Warum konnte es nicht Esther sein, die er für sich gewinnen musste?
Natürlich weil sie Jüdin ist, Dummkopf. Ihr würden Giacomo de Pazzis Predigten wohl kaum gefallen. Und Giacomo würde sie wohl eher zum Teufel jagen, als sie in den Kreis seiner Anhänger aufzunehmen.
»Wärst du so freundlich, mir mein Frühstück zu bringen?« Esther öffnete und schloss den Mund, als wollte sie etwas sagen, dann nickte sie und hastete zum Tisch, um dort die Teller und Schüsseln abzustellen. Sie wollte den Raum gerade verlassen , als Anselmo ein Gedanke kam.
»Esther?« Das junge Mädchen blieb mit gesenktem Kopf stehen, als würde sie fürchten, wegen einer Unachtsamkeit gescholten zu werden. »Ich möchte dich etwas fragen.«
Sie warf ihm einen kurzen überraschten Blick zu, dann nickte sie und senkte wieder den Kopf.
»Magst du Elisabeth?« Als er die Frage ausgesprochen hatte und ihr erstauntes Gesicht sah, wurde ihm bewusst, wie merkwürdig ihr seine Frage vorkommen musste. Aber nun war es zu spät. »Ich möchte eine ehrliche Antwort von dir.«
»Nun, Herr«, begann Esther, und ihr Blick irrte über den mit Teppichen ausgelegten Boden, als würde sie nach einem Schlupfloch suchen, in dem sie sich verstecken könnte. » Elisabeth ist ziemlich streng. Aber sie ist gerecht«, fügte sie hastig hinzu. »Sie duldet keine Unachtsamkeit. Und sie ist sehr fromm.«
»Du bist Jüdin, nicht wahr?«
»Ja, Herr.«
»Glaubst du, dass Elisabeth streng zu dir ist, weil du
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