Die Wächter von Jerusalem
lebhaft vorstellen. Und sie würden gewiss nicht lange damit warten, ihn auszuschalten. Also gab es für ihn nur eine Möglichkeit: Er musste bereits morgen früh vor der mit Omar verabredeten Zeit mit Özdemir oder sonst jemandem gesprochen haben.
Rashid trocknete sich ab und ging in den Schlafsaal. Die Lampen waren bereits gelöscht, und nur der Schein der Wachfeuer erhellte den Raum und die Reihen der Bettstellen. Die meisten Kameraden schliefen bereits. Einige atmeten ruhig und gleichmäßig, andere schnarchten. Sie alle waren von Kindesbeinen an zu Soldaten erzogen worden und hatten denselben Drill, dieselbe Ausbildung hinter sich. An jedem Ort und zu jeder Zeit zu schlafen, wenn sich gerade die Gelegenheit bot, war eine der ersten Lektionen, die sie gelernt hatten – neben dem Ehrenkodex , dass Janitscharen einander nie verrieten.
Seit er denken konnte, war er bei den Janitscharen gewesen. Die Kaserne, der Schlafsaal, die Wachttürme waren sein Zuhause . Was vorher in seinem Leben gewesen war, lag in völliger Finsternis. Er konnte sich nicht an seine Eltern erinnern. Er wusste nur das, was ihm ebenso wie seinen Kameraden sein erster Ausbilder erzählt hatte. Seine Eltern waren gestorben, und der Sultan war so weise, so gütig und barmherzig gewesen , den armen Waisen ein neues Zuhause, eine neue Familie und dazu noch eine ehrenvolle Aufgabe zu übertragen. Dafür verlangte er nichts weiter als Gehorsam und Treue. Ein wahrlich geringer Preis.
Rashid streckte sich auf seinem Bett aus und starrte zur Decke empor. Der schwache Schein der Wachtfeuer auf den Türmen zuckte über die Balken und malte seltsame Schatten auf den weißen Putz. Schatten, die zu Erinnerungen wurden. Es war, als würde sich vor seinen Augen sein ganzes Leben noch einmal abspielen – die ersten Übungen mit dem Holzsäbel, die ihm schmerzhafte Beulen und später, als sie dann mit scharfen Waffen kämpfen durften, viele Narben an den Handgelenken eingebracht hatten; das stundenlange Stehen auf dem Kasernenhof bei sengender Hitze oder in eisiger Nacht, wenn ihnen vor Müdigkeit die Augen zufielen oder brennender Durst die Zunge am Gaumen kleben ließ; die Reitübungen, die er vom ersten Augenblick an von allen Lektionen am meisten geliebt hatte; die gemeinsamen Mahlzeiten und Feste, wenn wieder junge Burschen ihre Gelübde abgelegt hatten; die freien Tage und Abende im Bad; die Schachpartien. Morgen würde das alles vorbei sein. Wenn er morgen – ob Özdemir oder wem auch immer – von der geplanten Verschwörung erzählen würde, gäbe es kein Zurück mehr für ihn. Er war im Begriff, eines der obersten Gesetze der Janitscharen zu brechen. Er wollte Ibrahim und Omar verraten. Und obwohl er sicher war, dass Allah und gewiss auch Suleiman der Prächtige ihm verzeihen würden, würde er von diesem Augenblick an kein Janitschar mehr sein.
Rashid blinzelte. Seine Augen begannen zu brennen, als würde er zu nahe an einem stark rauchenden Feuer sitzen. Oft genug hatte er über die Dienste gestöhnt, sich über das Essen beschwert oder sich über Vorgesetzte aufgeregt. Er hatte es sich so einfach vorgestellt – Omar um seine Entlassung bitten, sich mit Anne vermählen, aus Jerusalem fortgehen und eine Familie gründen. Doch jetzt wurde ihm klar, dass er Angst davor hatte, das Kasernenleben, den Drill und die Kameraden hinter sich zu lassen, denn schließlich war dies hier das einzige Leben, das er kannte.
VIII
Anselmos Plan
Anselmo fühlte sich wie gerädert. Er hatte in dieser Nacht lange nicht einschlafen können und war bereits weit vor seiner gewohnten Zeit wieder aufgewacht. In den wenigen Stunden Schlaf jedoch, die ihm vergönnt gewesen waren, hatten ihn schwere Albträume geplagt. Träume von abscheulichen Kröten voller abstoßender Warzen, die ihm in trüben, schleimigen Tümpeln auflauerten und ihm Gift ins Gesicht spritzten, sobald er sich ihnen näherte. Und Träume, in denen er gefesselt am Boden lag und ein grinsender Giacomo sich mit einem Messer in der Hand über ihn beugte. Anselmo wusste nur zu gut, dass diese Träume einen Teil der Wahrheit in sich verspannen. Er konnte sich mit Elisabeth einlassen und versuchen mehr über ihre seltsamen nächtlichen Ausflüge herauszufinden. Oder er konnte darauf warten, dass Giacomo de Pazzi eines Nachts an seinem Bett stehen würde, um ihn, Cosimo und Signorina Anne zu ermorden. Er hätte nicht sagen können, was ihm weniger gefiel.
Wahrlich verlockende Aussichten, dachte Anselmo und
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