Die Wächter von Jerusalem
werden. Gottes Zorn wird sich eines Tages gegen sie wenden und sie zerschmettern , wie Er es auch mit Sodom und Gomorra getan hat. Doch das soll nicht unser Problem sein, jetzt nicht mehr. Auf uns warten fortan neue Aufgaben.«
»Aber …« Der junge Mann war stehen geblieben. Er keuchte vor Anstrengung. Die Kapuze seiner Kutte war ihm beim Laufen vom Kopf gerutscht. Er beugte sich vor und stützte sich mit beiden Händen auf die Knie, um Atem zu schöpfen. »Pater Giacomo … wohin gehen wir denn?«
»Wir machen uns auf den Weg in ein Land, das der erlösenden Botschaft unseres Herrn Türen, Tore und Herzen geöffnet hat. Ein Land, in dem die Mächtigen bereit sind, auch unangenehme Schritte zu wagen und unbequeme Wege in Kauf zu nehmen, sofern sie dem Wohle und dem Seelenheil des Volkes dienen.«
»Pater, noch eine Frage.«
»Ja?«
»Wer war die Frau?«
»Nur eine von Cosimos Huren, niemand Wichtiges.« Der Ältere blieb stehen und wandte sich um. Seine Stimme klang verärgert. »Nun komm schon, Stefano. Du kannst dich später ausruhen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns!«
Der junge Mann raffte sich mühsam wieder auf und lief dem anderen nach.
Meleachim beobachtete aus seinem Versteck, wie sich die beiden immer weiter von ihm entfernten. Erst als sie hinter der nächsten Hügelkuppe verschwunden waren, wagte er sich wieder hervor.
Das waren die beiden Prediger, nach denen überall gesucht worden war, diese Unruhestifter, die alle Juden und Moslems aus Jerusalem hatten vertreiben wollen. Sie hatten die Stadt verlassen! Sollte er zurückkehren, um dem Statthalter diese frohe Kunde zu überbringen? Oder … Er entschied sich dagegen . Es war schon spät. Auch der Statthalter hatte einen ruhigen Abend verdient. Wahrscheinlich hatten ihm die Janitscharen am Tor ohnehin bereits gemeldet, dass die beiden Prediger geflohen waren. Er brauchte nicht mehr umzukehren.
Meleachim schulterte sein Bündel, das ihm mit einem Mal sehr viel leichter schien, und ging weiter. Nach ein paar Schritten blieb er noch einmal stehen und wandte sich wieder der Stadt zu. Sie hatte sich nicht verändert, und doch schien es ihm, als wäre sie plötzlich von einem Leuchten umgeben, das weder von der Sonne noch von den Lichtern herrührte, die allmählich überall auf den Straßen und den Stadtmauern angezündet wurden. Jerusalem, Stadt des Friedens. Jetzt würde sie es endlich wieder sein.
Ein Lied stieg aus Meleachims Kehle auf, und singend setzte er seinen Weg fort, so rasch und mühelos, als wäre die Zeit um mindestens dreißig Jahre zurückgedreht worden.
An diesem Abend war es still in der Bibliothek, keine Lampe wurde angezündet. Cosimo saß nahezu reglos in einem Sessel und nippte nur hin und wieder an seinem Rotwein. Anselmo stand an einem der Bücherregale, kaute an seinem Daumennagel , starrte dabei ins Kaminfeuer und hing seinen zweifelsohne trüben Gedanken nach. Und Anne? Sie dachte nicht, sie fühlte nicht, sie war leer. Sie war sogar froh darüber, denn sobald ihr Gehirn zu arbeiten begann, sah sie Rashid vor sich. Sie hörte seine Stimme, sie hörte sein Lachen, sie erinnerte sich an unzählige kleine Begebenheiten. Und mit den Erinnerungen kam auch der Schmerz – heftig, bohrend und ungedämpft. Es war immer noch schwer vorstellbar, dass es nicht gleich an der Tür klopfen und Mahmud melden würde, dass Rashid unten am Tor wartete. Aber das war nicht möglich. Rashid war tot. Sie selbst hatte gesehen, wie Özdemir und sechs Janitscharen, die von den Bewachern der Grabeskirche zu Hilfe gerufen worden waren, Rashids Leichnam in Tücher gewickelt und davongetragen hatten. Nach Giuliano war Rashid nun der zweite Mann, den sie geliebt hatte und der umgebracht worden war. War sie etwa dazu verdammt, den Männern, die sie liebte, Unglück zu bringen? Sollte es sie etwa trösten, dass Özdemir ihnen versprochen hatte, Rashid das ehrenvolle Begräbnis eines Helden zu bereiten und ihn wie einen Märtyrer, einen Heiligen zu feiern?
Das unterirdische Waffenlager war von Özdemirs Soldaten ausgeräumt worden, doch Giacomo schien verschwunden zu sein. Die Soldaten hatten alle Stollen des Steinbruchs durchkämmt , ohne eine Spur von ihm oder Stefano zu finden. Aber wo konnten sie sich jetzt noch verstecken? Sie hatten keine Waffen mehr und letztlich auch noch das Pergament verloren. Es war vorbei, das Spiel war aus. Das musste auch Giacomo klar geworden sein. Ob er die Stadt verlassen hatte? Und wenn ja, wohin war er wohl
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