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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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sah so jung aus, so unschuldig. Giacomo musste ihm das Elixier der Ewigkeit eingeflößt haben, denn obwohl Stefano dem Datum nach bereits die Fünfzig überschritten hatte, sah er keinen Tag älter aus als zwanzig. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie musste mehrmals schlucken, um den Kloß wieder loszuwerden, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte. Es war schon ein seltsames Gefühl, die Mutter eines Mannes zu sein, der älter war als sie selbst. Allein der Gedanke daran konnte einem Menschen bereits den Verstand rauben. Und sie fragte sich, ob sie sich das alles hier nicht vielleicht doch nur einbildete – oder wenigstens träumte.
    »Stefano, mein Sohn, hier siehst du endlich Cosimo de Medici «, sagte Giacomo. Anne wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen. Woher nahm sich ausgerechnet Giacomo de Pazzi das Recht, Stefano »Sohn« zu nennen? Er war ihr Sohn, nicht seiner! »Wir sind gemeinsam in Florenz aufgewachsen, und einst waren Cosimo und ich die besten Freunde. Bis er sich von Gott und dem rechten Weg abgewandt hat.«
    Stefano nickte stumm und sah Cosimo in einer Mischung aus Angst und Mitleid an. Was auch immer Giacomo ihm erzählt hatte, es war gewiss wenig Erfreuliches.
    »Das Urteil darüber, wer von uns beiden sich in Wahrheit von Gott und seiner Schöpfung abgewandt hat, steht uns nicht zu«, zischte Cosimo wütend. »Das wird einst ein anderer entscheiden .«
    »Ja«, sagte Giacomo und lächelte. »Und ich habe den Eindruck , dass du es als Erster erfahren wirst.« Er klopfte auf die Pergamentrolle und steckte sie wieder in seinen Beutel. »Diese Schrift wird dir auf den Weg zu deinem Schöpfer verhelfen, mein Freund.«
    Cosimo biss die Zähne zusammen. Seine dunklen Augen sprühten Funken.
    »Ich an deiner Stelle wäre nicht so überzeugt davon«, sagte er, und seine Stimme klang wie die eines knurrenden Raubtieres . »Das Schicksal lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen und …«
    »Schicksal?!« Giacomo schrie das Wort fast heraus, und von einer Sekunde zur nächsten war die Fassade des freundlichen , sanften Mannes von ihm abgefallen wie eine Maske. Seine Augen loderten vor Zorn, und mit jedem Wort sprühte er Speichel in Cosimos Richtung. »Du gottloser Narr wagst es, an diesem heiligen Ort von Schicksal zu sprechen? Gott lenkt unser Leben, nicht irgendein Schicksal, eine Fügung oder gar die Sterne. Und das wirst du bald merken, du …«
    Genau in diesem Augenblick hatte Anselmo Giacomo erreicht und seine Hand nach dem Beutel mit der Schriftrolle ausgestreckt. Und dann geschah alles auf einmal
    »Pater! Vorsicht! Hinter Euch!«, schrie Stefano. Giacomo drehte sich um. Anselmo riss den Beutel von Giacomos Gürtel und brachte den Prediger fast zu Fall. Anselmo sprang zurück.
    »Dieb!«, kreischte Giacomo. Er fing sich erstaunlich schnell und wirbelte seinen Wanderstab durch die Luft. Ein Teil des Stabes flog davon und prallte auf den Boden, während sich der verbliebene Rest in Giacomos Hand als Degen entpuppte. Die Klinge blitzte tödlich auf im Schein der Opferkerzen. Anselmo wurde zur Seite gestoßen und schlug hart auf dem Steinboden auf. Trotz des Lärms war deutlich zu hören, wie sich Stahl in Fleisch bohrte. Es war das furchtbarste, widerlichste Geräusch, das Anne jemals vernommen hatte. Giacomo schrie vor maßloser Wut unverständliches Zeug. Stefano rief immer wieder die Worte: »Er blutet! Pater, er blutet!« Cosimo schrie: »Nein!« Anselmo rief: »Sie fliehen! Haltet sie auf!« Anne schrie. Sie war außer sich vor Angst. Ihre eigene Stimme kam ihr seltsam schrill vor. Aus den Tiefen der Kirche erklangen laute Rufe. Männer kamen gelaufen, herbeigelockt von dem Lärm. Alle schrien durcheinander, sodass man meinen konnte, die Kuppel würde gleich über ihren Köpfen einstürzen. Nur Rashid gab keinen Laut von sich.
    Rashid hatte Anselmo zur Seite gestoßen und im selben Augenblick einen Schmerz gespürt, wie er ihn noch nie gefühlt hatte. Er hatte seinen Brustkorb durchdrungen, ihm den Atem geraubt und ihn zusammenknicken lassen wie einen gebrochenen Strohhalm. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff des Degens, der aus ihm herausragte wie ein Spieß aus einem Stück Fleisch, das über dem Feuer geröstet werden sollte. Seine Hände und sein Hemd wurden warm und feucht. Sie färbten sich in rasender Geschwindigkeit rot, während Bilder durch sein Gehirn zuckten. Sein ganzes Leben spielte sich noch einmal vor seinen Augen ab, und er sah jedes Detail – die letzten

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