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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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vergeblich gewesen. Wenn sie nun aber Erfolg gehabt hätte? Was wäre dann wohl passiert? Anne versuchte es sich auszumalen. Giuliano und sie hätten, so wie sie es geplant hatten, Anfang Mai 1478 geheiratet, und einige Wochen später wäre ihr Sohn zur Welt gekommen. Er wäre als Spross der Familie Medici aufgewachsen und hätte irgendwann sein rechtmäßiges Erbe angetreten. Vielleicht wäre sie sogar in der Vergangenheit geblieben – vorausgesetzt, dass niemand sie geweckt hätte. Vielleicht hätten sie und Giuliano noch mehr Kinder bekommen. Vielleicht … Aber was wäre dann mit ihrem Leben hier und jetzt, ihrem Leben in der Gegenwart geschehen? Hätte sie dann bis zu ihrem Tod im Koma gelegen? Wie hätte sich die Weltgeschichte entwickelt? Wäre sie überhaupt jemals geboren worden? In ihrem Kopf begann es zu schwirren. Das war zu viel, um es sich ausmalen zu können. Und da es wieder an der Tür klopfte und ein junger Mann mit einem Tablett eintrat , gab sie die Grübeleien auf.
    »Servieren Sie das Essen bitte auf der Terrasse. Ich möchte noch die frische Luft genießen.«
    »Gern«, sagte er und trug das Tablett nach draußen. Während Anne sich setzte, zündete er zahlreiche Lampen in dem kleinen Garten an. Anne entdeckte sie erst jetzt. Sie hingen an den Hauswänden, standen in Nischen und auf Mauervorsprüngen und tauchten den Innenhof in ein zauberhaftes warmes Licht.
    »Haben Sie noch einen Wunsch, Frau Niemeyer?«, fragte der Mann und stellte noch ein Windlicht zu ihr auf den Tisch.
    »Nein, danke.«
    »Dann wünsche ich Ihnen einen guten Appetit.«
    Er nickte und ließ Anne allein. Sie hörte, wie die Zimmertür hinter ihm ins Schloss fiel, und seufzte. Der Rotwein funkelte im Schein der Kerzen wie ein kostbarer geschliffener Rubin. Doch irgendwie konnte sie sich an seiner Farbe nicht wirklich erfreuen. Zu sehr erinnerte es sie an das Elixier der Ewigkeit und die damit verbundene Aufgabe. Vielleicht hätte sie sich doch lieber für einen Weißwein entscheiden sollen.
    Anne trank einen Schluck von dem ausgezeichneten Wein und begann zu essen.
    Der Wind war eingeschlafen. Anstelle der Bienen tanzten jetzt Nachtfalter um die Lampen herum, und die Vögel hatten den Grillen das Regiment übergeben. Ihr Zirpen war so laut, dass sogar die wenigen Geräusche von den Straßen nicht mehr zu hören waren.
    Jetzt fehlt eigentlich nur noch leise orientalische Musik, dann wäre die Kulisse perfekt, dachte Anne und trank wieder einen Schluck. Aber hier sollte kein romantischer Film gedreht werden, hier sollte bald ein Abenteuer stattfinden, mit ihr in der Hauptrolle. Eine rätselhafte Reise, von der sie, je näher der Zeitpunkt rückte, immer weniger überzeugt war, dass sie sie auch wirklich antreten wollte.
    Nach dem Essen, sagte sie sich, nach dem Essen werde ich entscheiden, wann ich das Elixier trinke. Mit leerem Magen sollte man keine wichtigen Entscheidungen treffen.
    Sie schob sich winzige Bissen in den Mund und kaute so langsam und gründlich, dass jeder Ernährungsberater sie als leuchtendes Vorbild hervorgehoben hätte. Und doch half es nichts. Irgendwann waren der Teller und die Weinflasche leer. Sie war satt, die Kerze war fast heruntergebrannt, und der Himmel über ihr war so dunkel, als hätte sich direkt über dem Innenhof ein schwarzes Loch aufgetan. Die Schwärze wurde nur unterbrochen von zwei kleinen leuchtenden Punkten – zwei Sterne, die hell genug waren, um gegen das Leuchten der Großstadt anzustrahlen. Es war still geworden. Selbst die Grillen hatten ihr Konzert beendet. Anne warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war mittlerweile zehn Minuten nach elf. Wie lange wollte sie noch warten? Wie lange wollte sie die Entscheidung noch hinauszögern?
    Sie erhob sich und spürte den Alkohol in ihrem Blut, der ihr immer auf den Kreislauf schlug. Eigentlich war sie recht trinkfest , auch das brachte ihr Beruf mit seinen häufigen Geschäftsessen und Partys mit sich, doch es war lange her, seit sie das letzte Mal allein eine ganze Flasche Rotwein geleert hatte – zumindest wenn sie die Zeit ihres Aufenthaltes im Florenz des 15. Jahrhunderts zu ihrer Lebensspanne dazuzählte. War es überhaupt ratsam, das Elixier zu sich zu nehmen, nachdem man Wein getrunken hatte? Sollte sie Cosimo anrufen und fragen?
    Unsinn, schalt sie sich. Auf seinem Kostümfest hast du vorher auch Champagner getrunken. Cosimo wird dich auslachen , wenn du ihn deswegen mitten in der Nacht aus dem Bett holst. Du hast jetzt

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