Die Wächter von Jerusalem
ein paar Augenblicke hatte sie weder an das Elixier der Ewigkeit noch an ihren seltsamen Auftrag gedacht. Stattdessen hatte sie sich auf ein paar schöne, entspannende Stunden auf der Terrasse in diesem traumhaften Innenhof gefreut.
Anne zog die Schleife auf und hob den Deckel ab. Oben auf dem weißen Seidenpapier lag eine Karte, geschrieben in einer Schrift, die sie mittlerweile sehr gut kannte. Sie hatte richtig geraten. Das Geschenk kam wirklich von Cosimo.
»Liebe Anne, dieses Kleid ist für Sie. Bitte ziehen Sie es an, bevor Sie das Elixier zu sich nehmen. Meine Dienstboten würden sich sonst zu sehr über Ihre befremdliche Kleidung wundern, und bald würde die Neuigkeit über Ihr rätselhaftes Erscheinen in aller Munde sein. Wir müssen jedoch aus verschiedenen Gründen jedes unnötige Aufsehen vermeiden , wie Sie sicher verstehen werden. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Umsicht.
Ihr ergebener
Cosimo.«
Anne schlug das Seidenpapier zur Seite und nahm das Kleid heraus. Wieder einmal hatte Cosimo sehr viel Geschmack bewiesen . Das orientalisch aussehende Kleid war aus türkisfarbener Seide und hatte einen breiten Saum mit Goldstickerei an den weit geschnittenen Ärmeln. Dazu gehörte auch noch eine passende Hose sowie ein breiter Schal, der offensichtlich um Kopf und Schultern drapiert werden musste.
Darin werde ich mich fühlen wie am Hofe des Sultans, dachte Anne und strich vorsichtig über den feinen, im Sonnenlicht sanft schimmernden Stoff. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, wenn sie das Geschenk nicht jetzt schon bekommen hätte. Hätte Cosimo mit der Lieferung nicht bis morgen früh warten können? Sie hätte dann wenigstens den Abend genießen und sich der Illusion hingeben können, dass sie eine Touristin wie jede andere war.
Anne ging auf die Terrasse und setzte sich wieder, doch der Zauber des kleinen Gartens war verflogen. Sie war nervös, unruhig , ihre Finger trommelten auf den Mosaikkacheln des Tisches . Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, untätig herumzusitzen , und sah auf ihre Uhr. Es war halb neun, und sie spürte plötzlich, dass seit ihrer letzten Mahlzeit im Flugzeug schon ein paar Stunden vergangen waren. Sie konnte sich etwas zu essen bestellen und danach … Ja, was dann? Wollte sie das Elixier gleich nach dem Essen nehmen oder doch lieber erst morgen früh? Sie beschloss, diese Entscheidung erst einmal zu verschieben , und warf einen Blick auf die Speisekarte. Sie war nicht besonders umfangreich, enthielt aber ausnahmslos Gerichte , die Anne liebte. Ob das ein Zufall war? Oder hatte sie auch das Cosimo zu verdanken?
Nachdem sie sich für Hähnchen-Tajin mit Couscous und einen einheimischen Rotwein entschieden und ihre Bestellung aufgegeben hatte, wanderte ihr Blick zum Nachttisch. Direkt neben dem Telefon befand sich ein Bild. Das heißt, es waren zwei Bilder in einem Metallrahmen, der wie ein aufgeklapptes Buch neben dem Wecker auf dem Nachttisch stand. Es waren zwei Porträts, und irgendetwas an diesen beiden Bildern kam ihr bekannt vor. Sie nahm sie in die Hand. Tatsächlich konnte man den Rahmen zusammenklappen wie ein Buch, ein Taschenbuch mit einem Einband aus Metall. Anne klappte den Rahmen wieder auf und musste sich auf die Lippe beißen, um nicht aufzuschreien. Der Mann und die Frau auf den beiden Bildern waren niemand anders als Giuliano de Medici und sie selbst. Sie standen einander gegenüber und sahen sich mit so viel Sehnsucht in ihren Blicken an, dass Anne die Tränen in die Augen schossen. Giuliano. Wie sehr hatte sie ihn geliebt. Wie furchtbar hatte sie sein gewaltsamer Tod in Florenz getroffen, und wie schrecklich war es gewesen, dass sie dieses Unglück nicht hatte verhindern können, obwohl sie genau gewusst hatte, dass es geschehen würde. Sie hatte sogar den Zeitpunkt des Mordanschlags gekannt, und trotzdem hatte es nichts genützt. Selbst jetzt noch, hier in diesem behaglichen Zimmer, erinnerte sie sich an das dunkle schwarze Loch, in das sie nach Giulianos Tod gestürzt war. Es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen.
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht und stellte die Bilder wieder an ihren Platz zurück. Ihre Hand zitterte. Ob Cosimo das gemeint hatte, als er sagte, dass der Lauf der Geschichte nicht verändert werden dürfe? Sie hatte gewusst, dass Giuliano im Zuge der Pazzi-Verschwörung im Jahre 1478 ermordet werden würde. Sie hatte alles getan, um das zu verhindern, aber ihre Bemühungen waren
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