Die Wächter von Jerusalem
nur Angst vor deiner eigenen Courage.
Sie setzte sich auf das Bett und starrte das Ziffernblatt des Weckers an – 23:11. Eine halbe Stunde nach dem Trinken des Elixiers, so hatte Cosimo ihr geschrieben, sollte sie sich wecken lassen. Sie würde also nur dreißig Minuten fort sein. Dreißig Minuten – das war kaum mehr als die Zeitspanne, die sie für ein Abendessen brauchte. Das war doch eigentlich ein Witz.
Dreißig Minuten. Was würde in dieser Zeit mit ihrem Körper geschehen? Lag sie hier im Bett, oder war sie während ihres Aufenthaltes in der Vergangenheit einfach verschwunden? Sie schlug sich gegen die Stirn, als ihr einfiel, dass sie ihre Videokamera hätte mitbringen können. Es wäre wirklich interessant gewesen, herauszufinden, ob sie sich einfach in Luft auflöste und wie sie dann wieder zurückkehrte.
Anne erhob sich und ging zu ihrer Tasche. Es war so weit, sie wollte das Elixier trinken. Sie nahm das Fläschchen und Cosimos Brief heraus und las ihn noch mal sorgfältig. Dann warf sie erneut einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. Wunderbar. Sie hatte also genug Zeit, um sich umzuziehen, das Elixier zu trinken und den Wecker auf zwölf Uhr zu stellen . Mitternacht. Ein sehr guter Zeitpunkt, um von dieser außergewöhnlichen Reise zurückzukehren, fand Anne.
Sie zog das orientalische Kleid an, setzte sich wieder auf das Bett und stellte den Wecker. Zwanzig nach elf. Zehn Minuten würde das Elixier bis zum Wirkungseintritt brauchen. Es wurde höchste Zeit.
Wie Cosimo es in seinem Brief empfohlen hatte, schüttete Anne den Inhalt der Flasche in ein Wasserglas und goss noch Wasser aus der Karaffe an ihrem Bett hinzu. Dann hielt sie den Trank gegen das Licht. Obwohl sie es mit Wasser verdünnt hatte, war das Elixier der Ewigkeit rot, dunkelrot und hatte eine dickflüssige Konsistenz. Es sah aus, als hätte sie das Glas in Wirklichkeit mit Blut gefüllt. Und wenn es sich nun tatsächlich um Blut handelte? Argwöhnisch roch Anne daran. Der süße Mandel-Honig-Duft, an den sie sich noch so gut aus Florenz erinnern konnte, stieg ihr in die Nase. Ein Duft, der sie an köstliches Gebäck und feinste Pralinen erinnerte . Wenn Cosimo sie nun angeschwindelt hatte? Wenn die ganze Geschichte von vorn bis hinten nur erstunken und erlogen war? Anne atmete tief durch. Sie zögerte. Die Zweifel waren groß. Und natürlich auch die Angst. So ähnlich mussten sich auch Neil Armstrong und die anderen Astronauten vor dem ersten bemannten Mondflug gefühlt haben. Allerdings hatten sie sich auf eine erfolgreiche Serie von wissenschaftlichen Tests verlassen können. Sie hingegen konnte nur darauf vertrauen, was Cosimo und Anselmo ihr erzählt hatten – und das entsprang eher dem Bereich der Mythen und Märchen als der exakten Wissenschaft.
»Nur zu, mach schon«, spornte sie sich selbst an. »Du willst doch endlich deinen Sohn kennen lernen. Richtig?« Sie nickte. »Und du willst dafür sorgen, dass diesem Wahnsinnigen , diesem Giacomo de Pazzi, das Handwerk gelegt wird und er nicht bis in alle Ewigkeit durch die Weltgeschichte spuken kann?« Wieder nickte sie. »Also gut, dann mach dich jetzt ans Werk und trink das Zeug endlich, du hast nicht ewig Zeit. Die Uhr tickt.«
Sie hob das Glas an die Lippen. Ihre Hand zitterte geradezu erbärmlich. Aber was konnte ihr schon passieren?
Du kannst dich mit diesem Trank vergiften. Und falls das mit der Reise tatsächlich klappen sollte, kannst du natürlich auch umgebracht werden, dachte sie. Im Mittelalter hatte man es mit der Ehrfurcht vor dem Leben schließlich nicht so genau genommen. Sie spürte, wie sich ihr Magen umdrehte. Und was war dann? Würde sie dann nur in der Vergangenheit tot sein oder auch in der Gegenwart sterben? Und was würde mit ihrem Körper geschehen? Würde sie …
»Verdammt, lass das Grübeln und trink endlich!«
Sie schloss die Augen und stürzte das Glas in einem Zug hinunter , wie ein Alkoholiker, der seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr zu trinken bekommen hatte. Sie wartete, ob sich etwas verändern würde, doch das Einzige, was sie bemerkte, war dieser wundervolle Geschmack auf der Zunge, ein Geschmack so köstlich, dass sie sich unwillkürlich wünschte, sie hätte von diesem Elixier noch etwas in Reserve – oder sie hätte sich wenigstens beim Trinken etwas mehr Zeit gelassen. Sie fühlte sich gut, leicht und beschwingt. Und ihre Angst – ja, wo war ihre Angst geblieben? Sie hatte keine Angst mehr. Und alle Zweifel, alles, was
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