Die Wächter von Jerusalem
ihr noch vor wenigen Sekunden den Kopf zermartert hatte, schien nun meilenweit entfernt zu sein. Sie legte sich auf das Bett und blickte im Zustand tiefer Zufriedenheit zur Zimmerdecke. Diese sah nicht mehr weiß aus, sondern schimmerte in einem sanften Goldton. Es dauerte eine Weile, bis Anne erkannte, dass es sich dabei keinesfalls um eine Laune des Lichts, sondern um einen zarten goldenen Nebel handelte, der plötzlich das Zimmer auszufüllen schien und immer dichter wurde. Es war nicht unangenehm. Es war nicht, als würde jemand ein Gas in das Zimmer leiten, um sie zu ersticken, nein, es war weich, warm und duftete herrlich. Der Nebel war mittlerweile so dicht, dass sie ihn mit ihren Fingerspitzen spüren konnte, wie einen Schleier aus feiner, durchsichtiger Seide. Und während er sich auf sie herabsenkte und sie einhüllte wie eine wärmende Decke, spürte sie den Wunsch zu erfahren, was sich hinter diesem Schleier verbarg.
IV
Die Frau in der Bibliothek
»O Adonai! O Adonai!«
Die Schreie der jungen Dienerin gellten schrill durch das Haus. Ihr Klang hatte Ähnlichkeit mit den Schreien eines Ferkels , das abgestochen werden sollte. Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen, schwere Schritte waren unten in der Halle zu hören.
»Herr im Himmel!«, drang eine zweite, noch lautere, kreischende Stimme durch Türen und Mauern, eine Stimme, die wohl in der Lage gewesen wäre, Tote zu wecken und die Mauern von Jericho zum Einstürzen zu bringen. »Bei der Heiligen Jungfrau! Junger Herr! So kommt doch! Junger Herr!«
Anselmo presste ganz fest zwei Kissen auf seine Ohren und wünschte sich weit fort. Er wollte nichts hören, er wollte nichts sehen. Er wollte einfach nur die Wärme seines Bettes genießen und weiterschlafen. Doch dann vernahm er eilige Schritte, das hastige Schlurfen von Pantoffeln auf dem Marmorboden . Es waren nicht zwei Beine, nein, es waren vier. Oder sogar sechs. Und sie kamen näher. Drei aufgeregte Diener , die durch das Haus liefen und einen Lärm veranstalteten, der einem durch Mark und Bein ging. Cosimo war nicht da. Er war von einem Ölhändler anlässlich des Laubhüttenfestes eingeladen worden und gestern zu dessen Landgut außerhalb der Stadt aufgebrochen. Da das Fest insgesamt acht Tage dauerte, würde er wahrscheinlich erst im Laufe der nächsten Woche zurückkehren. Zu spät, um drei aufgeregt durch das Haus rennende Diener zu beruhigen. Es blieb also an Anselmo hängen, die Ursache dieser Unruhe zu beseitigen.
Was es wohl diesmal sein mochte? Hier in Jerusalem gerieten die Diener ständig außer sich. Als Grund kam alles in Frage, angefangen von einem erloschenen Herdfeuer bis hin zu einer toten Spinne im Weizenmehl, während hingegen ein Toter vor der Haustür – in Florenz der einzige Grund für einen derartigen Aufruhr – schweigend und ohne großes Aufheben darum zu machen beseitigt wurde. »Heiliges Land«, »Stadt des Friedens« – Anselmo konnte darüber nur lachen. Jerusalem war eine seltsame Stadt, eine Stadt voller Verrückter und Verbrecher. Wahrscheinlich würde er die Menschen, die hier lebten, nie begreifen. Selbst in hundert Jahren nicht.
»Junger Herr! Junger Herr!«
Der Lärm kam immer näher. Träge erhob sich Anselmo aus seinem Bett, dehnte und streckte seine Glieder und begab sich zur Tür.
Er war gerade auf den Gang getreten, als sie auch schon um die Ecke bogen – Mahmud, der Gärtner und Hausdiener, Elisabeth , die Köchin, die so dick war, dass Anselmo sich jedes Mal, wenn er sie sah, erneut wunderte, und die kleine Esther, ein höchstens fünfzehnjähriges Mädchen, das putzte, wusch und all jene Arbeiten erledigte, zu denen sich weder Elisabeth noch Mahmud herabließen.
»Junger Herr!«, schrie die Köchin und lief auf Anselmo zu, der schon befürchtete, von ihr umgerannt zu werden. Er wollte ihr bereits ausweichen, doch zum Glück kam die Köchin noch rechtzeitig zum Stehen. »Junger Herr! Hört Euch an, was Esther entdeckt hat!«
Ihr Gesicht war dunkelrot, und ihr mächtiger Busen wogte vor Empörung und Atemnot auf und ab. Sie packte Esther am Arm und zerrte sie nach vorn, sodass sie direkt vor ihr stand. Ihre dicken fleischigen Hände drückten die schmächtigen Schultern des Mädchens, als wollte sie die Kleine dazu zwingen zu sprechen.
Esther senkte den Blick. In seiner Gegenwart wurde sie immer rot und starrte auf ihre Füße, selbst wenn sie Anselmo nur von weitem sah.
»Junger Herr, ich …«
»Was?« Sie sprach so leise, dass Anselmo
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