Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms
dachte darüber nach, was beinahe mit Tom passiert wäre, und versuchte, wieder Kraft zu schöpfen.
Mama wich uns so gut wie gar nicht von der Seite in diesen zwei Tagen, sie ließ uns nur kurz allein, wenn sie eine Suppe kochte. In der Nacht saß Daddy neben unseren Betten. Wenn ich aufwachte, voller Angst, weil ich mich im Traum noch auf der Schwingenden Brücke glaubte, war er da, lächelte mich an und legte seine Hand auf meine Stirn, und ich lehnte mich zurück und schlief wieder ein.
Am Tag darauf nahm er eine Wand der Scheune weg und benutzte die Bretter, um die Schlaf-Veranda mit festen Wänden zu versehen. Er sagte, er würde sich niemals mehr sicher fühlen, wenn einer von uns noch einmal dort draußen schliefe. Ich vermisste die alte offene Veranda, aber ich wusste, dass es besser so war. Ich hätte mich dort nicht mehr hinlegen und die Augen schließen können.
Fast zwei Jahre später erst ersetzte er an der Scheune die dort weggenommenen Bretter.
Über die Jahre hörten wir hier und da, dass es früher schon Morde wie die in unserer Gegend gegeben hatte; in Arkansas, Oklahoma, in Nord-Texas. Zu der Zeit kam niemand auf die Idee, dass all dies ein und derselbe Mörder getan haben könnte. So dachte man damals nicht. Die wahre Natur von Serienmördern war unbekannt.
Jetzt bin ich endgültig fertig, fertig mit diesen lange zurückliegenden Ereignissen aus den Dreißigern.
Epilog
Eine kleine Nachbemerkung noch. Ungefähr sechs Monate nach all diesen Ereignissen machte ein Jäger namens Jimmy St. John, den Daddy kannte, eine merkwürdige Entdeckung. Bezeichnender Weise geschah dies in der Nähe von Reds verlassenem Auto. Allerdings konnte man diese Entdeckung auch nur machen, wenn man während der Waschbärenjagd seine Taschenlampe fallen ließ, die Uferböschung herunterkletterte, weil die Taschenlampe da runtergerutscht war, und bemerkte, dass sich dort in einer kleinen Baumgruppe eine Lücke befand – und wenn man dort, genau in dieser Lücke, den Blick hob, nur dann konnte man es sehen.
Von einem Ast baumelte etwas, das aussah wie eine Vogelscheuche, die man in Teer gewälzt hatte.
Am nächsten Tag erzählte er Daddy davon, und Daddy fuhr hin. Damals erfuhr ich nicht alles darüber, aber mit den Jahren hat es sich zu einem klaren Bild zusammengefügt. Es war eine Leiche, mit Pech übergossen, die Augen weit offen, aber leer, nur Höhlen waren davon übrig geblieben, in denen sich Insekten tummelten. Sie hatte einen Strick um den teerbedeckten Hals, das andere Ende war um einen Ast geknotet. Daddy sagte, es sei offensichtlich, dass der Mann das Seil an dem Ast befestigt, sich die Schlinge um den Hals gelegt hatte und dann von der Böschung gesprungen sei. Er sagte, er frage sich, wie man sich wohl fühle, wenn man so etwas machte.
Ich glaube, in seinen dunkelsten Stunden hatte auch Daddy an Selbstmord gedacht – aber es auf diese Weise zu tun, so allein und so grauenvoll …
Zwei große Eimer mit Teer standen dort, und darunter musste mal ein Feuer gewesen sein, von dem jetzt nur verwehte graue Asche übrig war. Die Eimer waren außen mit Teer befleckt, die Deckel lagen daneben und ein Brett, das ebenfalls voller Teer war.
Daddy nahm an, dass der Mann den Teer erhitzt hatte und sich dann – bei vollem Bewusstsein – das siedend heiße Zeug über den Körper gekippt, dann die Schlinge um seinen Hals gelegt hatte und von der Böschung gesprungen war.
Weil er von Dr. Tinns Fähigkeiten überzeugt war, brachte Daddy die Leiche zu ihm. Dr. Tinn tat sein Bestes, um sie zu säubern. Ein großer Teil des Fleisches war vom Teer konserviert worden, und als es mit Farbentferner und solchen Sachen abgewaschen worden war, konnte man deutlich sehen, dass auf einem Arm eine von dem Mann selbst in die Haut tätowierte Liste mit Frauennamen stand. Ich habe Daddy nie gefragt, ob auch Mamas Name dort verzeichnet war; aber ich hatte meine Vermutungen.
Quer über der Brust befand sich eine neue, brutal in die Haut geritzte Tätowierung: NIGGER .
Daddy reimte sich das so zusammen: Red hatte Miss Maggie wie eine Mutter geliebt, aber als er herausfand, dass sie tatsächlich seine Mutter war, brach sein ganzes bisheriges Leben und alles, was er gewesen war, zusammen. Er war nicht länger der gute weiße Mann, der sich um eine arme farbige Frau kümmerte – er war selbst ein Farbiger. Dann versuchte er, Mose, seinen Vater, zu retten – und als das nicht gelang und ihm klar wurde, dass sein Leben verpfuscht
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