Die wahre Lehre - nach Mickymaus
mir diese gespenstischen Geräusche angehört. Würdest du das als menschlichen Gesang bezeichnen?«
Pat stemmte die Fäuste in die breiten Hüften und sah ihrem Chef in die Augen. »Und warum, wenn sie keine Menschen sind, singen sie die Mausketier-Hymne?«
Gordon fielen fast die Augen heraus. »Du willst mir doch nicht etwa erzählen, daß du dieses Geheule erkennst!«
»Genau das.« Natürlich war die Tonqualität sehr schlecht – ebenso schlecht wie die Bildqualität, ständig Knacken und Rauschen –, und es brauchte schon jemanden wie Pat, um die Ähnlichkeit zu erkennen. Jemanden, der aufgrund seiner privaten Vorlieben jedes Quiz über den Mickymaus-Club gewonnen hätte. Jemand, der die Nachnamen und das Alter aller Mausketiere, selbst der unbekanntesten, auswendig aufsagen konnte: Billie Beanblossom, 11, Jay-Jay Solari, 12, Bronson Scott, 8. Wahrscheinlich lebte höchstens noch ein halbes Dutzend Menschen, die dies konnten. Man konnte Gordon kaum vorwerfen, daß er das Lied nicht selbst erkannt hatte.
Aber für Pat gab es keinen Zweifel. Jedenfalls nicht, was das Lied anging – doch während sie ihre Ansicht bekräftigte, begann sie zu zweifeln. Ohne die Augen vom Bildschirm zu wenden, tastete sie auf dem Schreibtisch nach dem abgelehnten Stück Kuchen, brach ein paar Krumen ab und aß sie. Es war ein Schokoladencremekuchen mit Schokoladenguß, fast wie daheim und sehr beruhigend. Ganz im Gegensatz zu den Dingen auf dem Bildschirm. »Das muß ein Schwindel sein«, murmelte sie kauend, aber sie war nicht sicher. »Russen in Bärenanzügen. Ein Aprilscherz.«
»Wenn das ein Scherz ist«, sagte Gordon knapp, »dann ist es der teuerste Scherz der Geschichte.« Er stapfte im Raum hin und her, während Pat sich die Finger sauberleckte. Schließlich sagte er: »Was, um alles in der Welt, ist eine Mausketier-Hymne, wenn du mir die Frage verzeihst?«
»Das ist die Hymne oder das Thema des Mickymaus-Clubs, einer Fernsehserie, die ich damals in der Neolithischen Ära als Kind gesehen habe.« Die Hemden und Hosen der Mausketiere mußten hellblau sein. Pat wußte es, weil sie das Mickymaus-Clubheft abonniert hatte. In der Zeitschrift hatte es viele Farbbilder gegeben; im Fernsehen waren die Figuren natürlich immer grau gewesen, denn der Mickymaus-Club war zwischen 1955 und 1958 gefilmt worden, vor der Einführung des Farbfernsehens.
Wenn man Russe oder Chinese war, konnte man sich die alten MMC- Zeitschriften besorgen und nachschlagen, um die Mausketier-Uniformen blau zu färben. Wenn man dagegen im Aldebaran oder so lebte und sich an den greifbaren Informationen orientieren mußte, dann käme man natürlich nicht auf die Idee … »Kommt die Sendung in Farbe?«
»Ja. Das da sind die Farben, soweit man davon sprechen kann.«
Sie verwandelten die Hymne in etwas Beängstigendes, aber das hielt Pat nicht davon ab, sich zu erinnern, wie sie hätte klingen müssen. Das Band war zu Ende. Gordon fluchte, spulte zurück und spielte es noch einmal von vorn ab. Wieder fand sich die Gruppe zusammen, wie es damals die Mausketiere getan hatten, und begannen a capella zu singen. Eigentlich mußte es eine Orchesterbegleitung geben, aber sie bemühten sich, die Zuschauer zu bewegen, in das Lied einzustimmen und sich der Gruppe anzuschließen. Getreu dem Text des Liedes buchstabierten sie den Namen Mickymaus.
Pat sagte nachdenklich: »Wie könnten das keine Menschen sein? Andererseits ist die Frage, was für Menschen das sind.«
Gordon gab ein würgendes Geräusch von sich. »Die klingen wie eine Gruppe Kazoos. Die sehen aus wie eine Truppe dünner, dressierter Bären mit Tentakel-Schnurrbärten. Ich weiß nicht, was sie sind.« Er tastete nach einem Knopf auf der Konsole hinter sich. »Wachdienst sofort zu mir.«
Der Befehl klang viel sinnvoller, als er war. Der ›Wachdienst‹ auf dem Mars hatte die Aufgabe, Lecks in der Biosphäre zu verhindern. Selbst die paranoide NASA hatte einen echten Wachdienst für überflüssig gehalten. Später konnte sich das ändern, aber Schußwaffen waren ohnehin nicht brauchbar, weil man nicht riskieren konnte, die Sphäre zu durchlöchern. Im Augenblick konnte Gordon höchstens ein paar seiner wachfreien Hydraulik-Ingenieure mit Preßlufthämmern bewaffnen, die möglicherweise nützlich waren, falls die Mausketiere eine Invasion begannen, die aber bei einem Angriff aus dem Raum völlig unbrauchbar waren. Gegen einen Raumangriff konnten die Mitarbeiter weder sich selbst noch die Biosphäre
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