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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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für den Fall eines späteren Entkommens die Route einzuprägen. Zu seiner Rechten lag ein Heckraddampfer in seinem künstlichen See. Er war auf eine Insel gelaufen und lag mit Schlagseite halb auf dem Strand, halb im Wasser, ein klaffendes Loch im Heck. Die bunte Bemalung war verbrannt, das Steuerhaus verkohlt. Sherlock Holmes vermutete darin das Ergebnis eines Volltreffers einer von Major Liebestraums Brandraketen.
    Es gab noch andere Zeichen der jüngsten Beschießung: Granattrichter in der Straße, zersplitterte Scheiben, eine zusammengebrochene Postkutsche, Pfützen geschmolzenen Speiseeises und unheilverkündende rötlichbraune Flecken. Einmal sah er einen menschlichen Körper, der so in einen Winkel gepreßt war, als wäre er mit großer Gewalt hineingeschleudert worden, aber von dem allgemeinen Massaker, das er erwartet hatte, war nichts zu sehen. Müssen aufgeräumt haben, dachte er bei sich, oder … Er fühlte Plutos rauhe Zunge und seinen heißen Speichel und erschauerte.
    Bald näherten sie sich dem Dornröschenschloß, dem Tor zum Fantasyland. Hier waren die Beschußschäden schlimmer. Jede Wand war von Schrapnellen und Granatsplittern genarbt. Die Schwäne, die auf dem See gelebt hatten, waren alle tot und trieben wie Klumpen schmutziger Watte an der Oberfläche.
    Der Ritt endete in einem kleinen Pavillon. Pluto trug ihn ein paar Stufen hinauf und ließ ihn ohne weiteres vor einer Tür fallen, die von bläulich zuckenden Elmsfeuern umgeben war. Sherlock Holmes war froh, denn das ständige Auf und Nieder hatte ihm schließlich Übelkeit verursacht. Er hatte sein Fernglas verloren, das ihm kurz nach dem Verlassen des Spukhauses vom Hals geglitten war. Auch seine Taschenlampe war fort. Sie war ihm aus der Tasche gefallen. Er hatte jedoch noch immer seinen Spazierstock, der eine Kugel verschießen konnte.
    »Der Chef wird Sie bald empfangen«, sagte Pluto und zeigte gähnend riesige weiße Zähne. »Versuchen Sie keine Dummheiten, denn Micky sagte, ich soll Sie in einem Stück bringen.« Er leckte sich die Lefzen.
    Sherlock Holmes saß bewegungslos, den Blick wachsam auf den riesigen Hund gerichtet, der einzuschlafen schien, sowie seine lange Schnauze auf den Pfoten zur Ruhe kam. Sein lautes Schnarchen bewegte die Blütenblätter der Papierblumen, mit denen der Korridor geschmückt war.
    Sherlock Holmes war drauf und dran, eine vorsichtige Bewegung zu machen, als die Tür aufsprang und eine Stimme dröhnte: »Komm rein, Sherlock-Baby. Die Weiber taugen nichts, aber der Bourbon ist gut. Komm rein und mach’s dir bequem!« Sherlock Holmes mutmaßte, daß die Stimme Mickymaus persönlich gehören mußte. Er stand langsam auf. Pluto öffnete ein Auge und zwinkerte ihm zu. »Machen Sie voran!« knurrte er. »Den Chef läßt man nicht warten.«
    Sherlock Holmes umfaßte entschlossen seinen Schießspazierstock und marschierte mit aller Würde, die er aufbringen konnte, durch die Tür. Er sah sich in einem großen Raum mit Fenstern, die wie Kleeblätter geformt waren. Der Anblick, der sich ihm bot, brachte ihn jedoch abrupt zum Stillstand.
    In einem Winkel lag Peter Pan. Seine Flügel waren zerdrückt und gebrochen, seine gewöhnlich strahlenden Augen trüb vor Schmerz. In seiner Nähe lagen die Reste von Jiminy Cricket verstreut auf dem Teppich. Auch Minnymaus war da. Sie hatte die Tür geöffnet, aber nun war sie auf den Knien und weinte in ein großes, gepunktetes Taschentuch. Auch Schneewittchen war da, sehr ernst aussehend und zurückgelehnt auf einem Sofa. Sie bürstete sich das Haar mit einer großen silbernen Bürste und nahm zwischendurch Trauben aus einer großen Schale, die von zwei der sieben Zwerge hochgehalten wurde.
    Ihm gegenüber war Mickymaus vornübergebeugt in einem großen Sessel, eine Hand am Boden und eine Flasche in der anderen. Die großen schwarzen Ohren hingen herab, in den Augen standen Tränen.
    »Komm rein, Sherlock! Haben dich schon erwartet. Sahen dich unten auf dem Parkplatz. He, kümmere dich nicht um die Frauen. Ein kleiner Familienkrach, nichts weiter.«
    Sherlock Holmes ging näher. Der stechende Geruch von Holzalkohol biß in seine Nase. Micky war augenscheinlich betrunken.
    Micky holte tief Atem und richtete sich auf. »Du triffst uns in mieser Stimmung an«, sagte er. »Gott, was haben wir für eine beschissene Welt geerbt! Du sollst eine Art Hirnathlet sein. Was sollen wir tun?«
    Sherlock Holmes dachte an das gequälte Gesicht des Streifenpolizisten Quin, der eine

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