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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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war eine unfruchtbare Leere. Mir brauchte das niemand mehr zu erzählen – meine Mutter war eine Tänzerin, die nie tanzte, aber zweimal im Jahr eine Diät machte und Tai Chi übte, und mein Vater Gerald war ein Dichter, der nach seinem ersten Buch, für dessen Erscheinen er im Alter von 27 Jahren zweitausend Dollar gezahlt hatte, keine Zeile mehr dichtete. Tausend Exemplare des Werkes lagern, soweit ich weiß, immer noch in einem Wandschrank des Hauses, in dem ich wohnte, bis ich 21 war und meine Eltern fast fünfzig. Er hatte mich nach einem Dichter genannt, der doppelt so alt war wie er, Vorlesungen über Sozialtheorie hielt und revolutionäre Ideen zu allem und jedem hervorbrachte – ausgenommen sein eigenes Leben. Meine Eltern waren typisch für ihre Generation – die bedeutendste, die dieser Planet je beherbergen würde, die hervorragendste und die durch und durch beklagenswerteste. Keine Familie schien mir auf originelle Weise unglücklich zu sein, sondern alle nahmen teil an einer statistisch verteilten Unzufriedenheit, die herzzerreißender war als jede Tragödie. Ich lernte viele Menschen kennen, da meine Eltern gern Gesellschaften gaben, mit üppigen Dinners und Marihuana oder Videofilmen als Dessert, und die Politiker erschienen mir in keiner Weise besser als die Künstler.
    Mit meiner Ausbildung blieb mir also nur, ein Interesse an meinem ererbten Fluch namens Mozart zu heucheln und mein geliehenes Wissen an eine neue Generation weiterzugeben, der Niederlage, Scheitern und Hochstapelei schon ins Gesicht geschrieben standen. Das tat ich auch, bis ich eines Tages das Angebot erhielt, für die – scherzhaft so genannte – Kunst-Gestapo zu arbeiten.
    Der Name entstammte der Verzweiflung, Verachtung und dem bissigen Zynismus von Männern, die aus einer miesen Sache das Beste machen. Die Mitarbeiter waren die Stars des Ministeriums. Sie hatten es nicht geschafft, ihr eigenes Leben zu gestalten und zogen sich daher in die Geschichte zurück. Sie haßten die Vergangenheit (keiner von ihnen hatte Kinder), wagten aber nicht, sie zu ignorieren, weil sie wußten, wie sehr sie aus ihr lebten. Ihre Aufgabe war Zeitbetrug: sie woben in das Muster der Vergangenheit kleine Änderungen ein. Da die Betreiber der Maschinerie Kunst für den unwichtigsten Zeitvertreib hielten, wurden die ersten Experimente mit der Vergangenheit auf dem Gebiet der Kunstgeschichte durchgeführt. Sie gaben mir ihr Anliegen sehr durch die Blume zu verstehen, wie Freimaurer, eifrig und doch zurückhaltend, um die Geheimnisse ihres vornehmen, eleganten Scheiterns zu bewahren.
    Das Leben der Behörde bestand aus Klatsch und sensationellen Geschichten. Ein Herr, der einen Kurs über Wagner hielt, behauptete, er habe 1945 Anton Webern erschossen, um der Welt weiteres ›jämmerliches Gequietsche‹ dieses Avantgardisten zu ersparen; außerdem habe er die Hälfte von Weberns Manuskripten vernichtet, Bachs Musikalisches Opfer komponiert und eine Bombe im Bauhaus gelegt. Dann beschwor er mich, niemandem etwas davon zu erzählen, und ich versprach es ihm, obwohl ich dieselbe Geschichte schon zweimal von anderen Leuten gehört hatte.
    Über die verwendeten Methoden wußte ich nur wenig. Zuerst hatten sie das Bewußtsein eines Forschers in den Geist eines längst verstorbenen Künstlers übertragen. Dabei konnte nicht viel schiefgehen, denn die Kontinuität von Materie wurde nicht gefährdet. Es war eher ein Lauschangriff als Einbruch und Besitzergreifen. Aber manche kehrten ohne Bewußtsein zurück, und andere gerieten in einen seltsamen Zustand. Sie hatten die Fähigkeit des Schlafens verloren, obwohl noch Träume durch ihr waches Bewußtsein huschten wie Halluzinationen. Von einem, der versucht hatte, im alten Griechenland die Existenz von Homer nachzuweisen, wurde erzählt, er sei irrsinnig und blind zurückgekehrt und habe nur noch in griechischen Versen gesprochen. Da die Möglichkeit, sich für einen Tag oder eine Minute in der Vergangenheit in das Bewußtsein eines Freundes oder Feindes zu versetzen, große Gefahren aufwarf, wurde die Technik verboten. Aber von einem ehemaligen Liebhaber, der beim Sex damit experimentierte, weiß ich, daß diese Transfers immer noch durchgeführt werden. In deprimierten Augenblicken beschleicht mich die Furcht, daß unser gesamtes Zeitgebäude zusammenbrechen und die Zeit objektiv enden könnte, weil Millionen aus einer unerträglichen Zukunft in Vergangenheiten flüchten, die Körper hingestreckt auf

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