Das Geheimnis der Perle
1. KAPITEL
San Francisco – Gegenwart
H ey, Lady! Hüten Sie sich vor Haien!“
In einem anderen Zusammenhang wäre Liana Robeson diese Warnung vielleicht nicht so bedrohlich erschienen. Hätte eine Mutter ihrem halbwüchsigen Sohn vor dem Surfen einen Vortrag gehalten zum Beispiel. Oder ein scheidender Firmenchef die Zügel an seinen jungen Nachfolger übergeben. Dann wäre das auch sicher ein guter Ratschlag gewesen. Aber hier, auf einem Gehsteig mitten in San Francisco, kurz vor ihrer schlimmsten Panikattacke seit Monaten, versetzten Liana diese Worte in Alarmbereitschaft.
Sie war umgeben von Haien, und sie spürte, wie die Bestien sie umkreisten.
„Vergessen Sie das nicht, ja?“
Liana tätschelte die Handpuppe, mit der der Obdachlose vor ihrem Gesicht herumwedelte. „Nein … ich werde es nicht vergessen.“
Die Puppe, ein grinsender Delfin, kippte zur Seite, während der dunkelhäutige, ausgemergelte Mann ein Stückchen näher kam. „Alles klar mit Ihnen?“, rief er über das Läuten einer Straßenbahn hinweg. „Sie sehen blass aus!“
„Ich …“ Doch mehr Worte kamen Liana nicht über die Lippen. Es ging ihr gar nicht gut. Sie war eine achtunddreißigjährige Geschäftsfrau, die es kaum schaffte, allein über den Gehsteig zu gehen. Sie hatte Angst vor weiten, offenen Flächen. Sie fürchtete sich vor dem Unbekannten. Und ihr graute vor den Mächten in ihrem Leben, die sie nicht sehen oder kontrollieren konnte. Sie war eine Mutter, die ihren Sohn erst vor ein paar Stunden mit einer Boeing 737 in die große Ungewissheit entlassen hatte: Um Viertel nach acht hatte sie zugesehen, wie ihr einziges Kind in ein Flugzeuggestiegen war, das ihn zu seinem Vater bringen würde. Und jetzt bezahlte sie den Preis dafür.
Der Mann musterte sie besorgt. Er wartete, bis die Straßenbahn verschwunden war, ehe er sagte: „Wollte Ihnen keine Angst machen. Mein Flipper hier tut Ihnen nichts.“
Liana schloss die Augen. Für einen Moment befand sie sich in ihrer eigenen kleinen Welt. Kälte kroch über ihre erhitzte Haut. Sie würde sich in Eis verwandeln, wenn Liana sich nicht befreite. Ja, sie kannte diese kleine Welt, und sie wusste, was sie erwartete: eiskalte Haut, hämmernder Puls und das Gefühl von Abermillionen Nadelstichen an Armen und Beinen.
„Haben Sie heute schon was gegessen, Schätzchen?“
Liana öffnete die Augen. Der Mann war immer noch da. Sie trug thailändische Seide und irisches Leinen; sein T-Shirt war billig und alt. Unter seinem Arm klemmte ein Stapel Zeitschriften, die von Obdachlosen herausgegeben wurden. Liana wies ihren Chauffeur immer an, eine zu kaufen, aber gelesen hatte sie sie noch nie.
„Danke, es geht mir gut.“ Um Kontrolle bemüht, deutete sie auf die Zeitungen. „Ich nehme eine.“
„Das ist nett. Sag Danke, Flipper!“ Flipper und er sahen den Stapel nach der schönsten Zeitung durch.
Erst jetzt fragte Liana sich, ob sie überhaupt Geld dabeihatte. Sie war Vizepräsidentin eines der größten Projektentwicklungsunternehmen der Bay Area. Nachdem sie ihren Sohn Matthew zum Flughafen gebracht hatte, hatte sie Pacific International an diesem Morgen schon bei zwei Meetings repräsentiert und mit einigen internationalen Immobilienmagnaten Meeresfrüchtesalat bei Tarantino’s gegessen.
Dann hatte sie den Fehler gemacht, die Limousine stehen zu lassen. Sie wollte die letzten drei Blocks bis zum Robeson Building zu Fuß zu gehen. Sie hatte sich dazu gezwungen, weil ihre Welt immer enger wurde. Sie musste dagegen ankämpfen.
Sonst würde sie eines Tages aufwachen und ihr Schlafzimmer nicht mehr verlassen können.
Sie öffnete ihre Geldbörse, fand jedoch nur eine zerknitterte Dollarnote. Das war eigentlich mehr als genug, aber sie hatte nicht oft die Gelegenheit, anderen Menschen mit Liebenswürdigkeit zu begegnen.
„Nehmen Sie das.“ Sie steckte ihm das Geld zu, während ein Fahrrad an ihnen vorbeisauste. Es überraschte sie nicht, dass ihre Hand zitterte. „Und das hier.“ Sie berührte die Brosche, die an ihrem Blazer steckte. Sie stammte noch aus der Zeit, als sie jung und dumm gewesen war. Aus der Zeit, in der sie geglaubt hatte, ihrem Herzen folgen zu müssen. Kleine Perlen, in Gold eingefasst. Der einzige Mann, den sie je geliebt hatte, hatte diese Perlen gezüchtet, und sie selbst hatte die Brosche angefertigt.
Sie hielt dem Mann das Schmuckstück hin.
Seine Augen wurden groß. „Das kann ich nicht annehmen …“
„Natürlich können Sie!“ Sie
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