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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Transfer-Liegen, die Zukunft unbewohnt und folglich unerschaffen – eine düstere Apokalypse von Möbiustreppen, die in ewigem Aufwärts in sich selbst zurückführen, in der die Menschen ihr jüngeres Ich ermorden, mit ihren Vätern vögeln und alle Arten von Vereinigungen vollziehen, die bisher unter der Tyrannei der linearen Zeit unmöglich waren.
    Bei der zweiten Methode wurde auch der Körper durch die Zeit transportiert. Auf diese Weise kam man zwar nicht sehr direkt an die Gedanken des Künstlers heran, aber man konnte historische Fakten prüfen, Umstände ändern oder sonstwie Einfluß nehmen. Das Pikante war, daß diese Eingriffe aufgrund der Wahrscheinlichkeitsgesetze der Zeit im nachhinein als unausweichlich erschienen. Ein Agent lockerte die Halterungen der goldenen Lyra an der großen Außenfassade der Pariser Oper. Sie fiel herab, als der Wagen mit der Leiche des Dichters Verlaine gerade unten vorbeifuhr, wie die Geschichte es uns auch überliefert.
    Meine Aufgabe sollte darin bestehen, Mozarts Requiem in Auftrag zu geben, das ja bereits existierte.
    Das versetzte mir einen schweren Schlag. Ich liebte die Zeit wie ein Schuljunge, der nur in seiner Phantasie die Angebetete berührt oder mit ihr spricht – deshalb hatte ich das Gefühl, sie besser zu verstehen als jeder andere. Ich kannte ihre Struktur, aus den Augenblicken der Stille, wenn das Vibrieren der Klaviersaiten ganz erstorben war, aus dem Höhepunkt einer Sonaten-Reprise und aus der Tiefe meiner Träume. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß es möglich war, die Zeit derartig zu vergewaltigen. Ich war damals wahrhaftig nicht mehr unschuldig und konnte Betrug akzeptieren, aber vielleicht waren gerade in meiner Vorstellung von der Zeit alle kümmerlichen Reste meiner Unschuld vereint. Manchmal hatte ich den Gedanken, daß ich keine Person war, sondern eine Sammlung von Erinnerungen, Ausdruck einer umfassenden Ökologie der Vergangenheit, deren Weiterentwicklung meine Gegenwart vollständig festlegte. Ich fühlte mich nicht mehr als ein Selbst, das über meiner Geschichte stand und sie steuerte; meistens war ich unsicher, ob ich lebte oder gelebt wurde, welche meiner Worte und Handlungen wirklich zu mir gehörten und welche dem Zeitgeist entsprangen oder Ausdruck der Kräfte waren, die mich geformt hatten. Ich weigerte mich, das Wort Liebe zu benutzen, aus Furcht vor Dantes zehnter Hölle, in der Falschmünzer mit Wahnsinn bestraft werden. Ich hatte mir ein perfektes logisches Gebäude für meine Passivität errichtet. Wie soll ich also erklären, warum ich den Auftrag annahm?
     
    Wir wissen aus der Geschichte, daß ein geheimnisvoller Fremder bei Mozart eine Totenmesse bestellte. Der leidende Komponist kam nach und nach zu der Überzeugung, daß es sein eigenes Requiem sei, das endlich zu beenden er immer wieder gedrängt wurde. Die Arbeitsüberlastung und die ständigen Mahnungen seines gespenstischen Auftraggebers brachten ihn um. Meine Behörde wollte, daß ich mich in diesen geschichtlichen Ablauf einmischte. Ich hatte nicht die Absicht, das jemals zu tun. Ich scheute vor der Verantwortung zurück. Ich mochte Mozarts Musik gar nicht, sie war mir zu sehr an die Konventionen seiner Zeit gebunden (und gleichzeitig zweifellos die Vollendung dieser Konventionen). Sein Geklimpere, seine Zugeständnisse an den Zeitgeschmack, seine Gier nach Beifall oder wenigstens Zustimmung (als Kind fragte er nach seinen Konzerten die verlebten Höflinge und Prinzessinnen: »Hast du mich lieb? Hast du mich auch wirklich lieb?«), seine Bereitschaft, sich zu den miesesten Bedingungen zu verkaufen – Bedingungen, die ich für mich nie akzeptieren konnte. Aber dieselbe Stimme, die mich dazu getrieben hatte, Musik zu studieren, obwohl die Musik tot war, und meine Leidenschaft meinem eigenen Geschlecht zuzuwenden, obwohl ich wußte, daß es mich psychisch fertigmachte, sprach auch jetzt, und ich stimmte zu. Das war eine Perversion, die ich mit den Technikern gemeinsam hatte – in dem Moment, wo sich eine Möglichkeit eröffnete, gab es kein Zurück mehr. Die Idee bohrte in mir wie ein Zahnschmerz. Vielleicht konnte ich ihm Wissen schenken. Und letztlich war die Maschine auch ein Segen. Damit die Zeit nicht in grausamer Weise Menschen mißbrauchen konnte, wurde ihr Fortgang verändert. Revision, Schleife, Lücke, Aufschub – daß es dafür Worte gab mit fester Bedeutung wie für Zeit und Reise (wenn auch aneinandergepreßt wie Ehebrecher), das war ein

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