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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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    E s roch nach Holz und Leim und frischem Lack. Sie war allein mit der Dunkelheit und mit der Stille. Nur ihren Atem konnte sie hören und das leise Ticken der Uhr in ihrer Jackentasche. Schien wieder weg zu sein, der Mann, dennoch beschloss sie, noch eine Weile zu warten, und streckte sich, um Blut in Arme und Beine zu pumpen. Wenigstens hingen keine Kleiderbügel an der Stange. Durch den Türspalt drang ein wenig Licht, und sie holte die Uhr aus der Jacke. Kurz nach neun, eigentlich müsste der Nachtwächter seine Runde auch oben in der sechsten Etage nun bald beendet haben.
    Die Antwort gab ihr das schleifende Geräusch des Aufzugs, das so laut durch die Dunkelheit dröhnte, dass sie zusammenzuckte. Es war so weit. Er war wieder auf dem Weg nach unten, und in den nächsten Stunden würde er sich nur noch um die Rollgitter vor den Türen und Schaufenstern kümmern und sich vergewissern, dass alles abgeschlossen war und niemand versuchte einzubrechen.
    Alex öffnete den Schrank, behutsam und vorsichtig, und lugte durch den größer werdenden Spalt. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sagte Benny immer. Die Leuchtreklamen draußen auf dem Tauentzien warfen so viel buntes Licht durch die Fenster, dass sie nicht einmal ihre Taschenlampe einschalten musste, sie konnte alles erkennen: das luxuriöse Schlafzimmer, das sie hier arrangiert hatten, ein Bett, so breit, dass eine ganze Familie darin hätte schlafen können, der Teppich so weich, dass ihre Füße darin versanken. Wenn sie da an den kratzigen Kokosläufer dachte, vor dem Bett, das sie sich mit Karl teilen musste, damals, als sie noch bei ihren Eltern wohnte, mit vier Leuten auf viel zu wenig Quadratmetern mit viel zu wenig Licht. Was aus Karl geworden sein mochte? Sie wusste nicht einmal, ob die Bullen überhaupt nach ihm gesuchthatten nach Beckmanns Tod. Sie hatte keine Sehnsucht nach ihrer Familie, ihren kleinen Bruder aber, den hätte sie schon gern noch einmal gesehen.
    Alex fuhr herum, ihre Augen hatten eine Bewegung ausgemacht, irgendwo am Rand ihres Blickfelds, und dann erkannte sie den großen Spiegel der Frisierkommode und darin ein achtzehnjähriges Mädchen mit herausforderndem Blick, die Beine in schlabbrigen Hosen, die Haare von einer grob gewebten Leinenmütze zusammengehalten.
    Sie zeigte ihrem Spiegelbild ein schiefes Grinsen. Am Ende der edel tapezierten Sperrholzplatte, die eine Schlafzimmerwand vorzutäuschen hatte, schaute Alex noch einmal um die Ecke. Eigentlich unnötig, der Nachtwächter machte erst morgen früh die nächste Runde durch die Verkaufsräume, gegen Ende seiner Schicht, das wussten sie von Kalli. Hier war keine Menschenseele. Das alles gehörte jetzt ihr für die nächsten Stunden, ihr und Benny. Sie mochte dieses Gefühl.
    Alex fand sich problemlos zurecht, das unruhige Licht von draußen, das in ständig wechselnden Farben flackerte, reichte ihr vollauf. Vorhin, als es hier noch taghell war und alles voller Menschen, hatte sie sich die wichtigsten Dinge eingeprägt. Dahinten lagen die Türen zum südlichen Treppenhaus, und dort links, vorbei an der Wand aus Gardinenmustern, ging es zu den Rolltreppen.
    Alles war still, der Verkehrslärm drang nur gedämpft und leise zu ihr, beinahe unwirklich, ein dumpfes Rauschen aus einer anderen Welt, die nichts zu tun hatte mit der verzauberten hier drinnen. Sie betrat den menschenleeren Gardinensaal, und auch der wirkte wie ein Märchenschloss, lange Vorhänge von der Decke bis zum Boden, Samt und Tüll und Seide. Schon als kleines Mädchen hatte sie hier gestanden und gestaunt, an der Hand ihrer Mutter, die, wie die kleine Alexandra bald merken sollte, nie zum Kaufen kam, sondern immer nur zum Gucken, zum Staunen und zum Träumen. Schau dir das gut an, hatte sie zu Alex gesagt, das können sich arme Proleten wie wir niemals leisten. Aber das Angucken können sie uns nicht verbieten.
    Fürs Kaufen im reichen Westen hatte das Geld nie gereicht, auch in den besseren Zeiten nicht, als Vater noch Arbeit hatte und Mutter ihre Putzstelle. Selten genug waren sie überhaupt ausihrem Boxhagener Kiez hinausgekommen, und wann denn schon einmal in den Westen? Ku’damm, KaDeWe und Tauentzien – für ihren Vater waren das nur Sinnbilder eines verschwenderischen Kapitalismus, der Westen ein Sündenbabel, das er mied wie der Teufel das Weihwasser. Ohne Mutters Drängen hätte der sture Alte sich nicht einmal zu den wenigen sommerlichen Besuchen im Zoo breitschlagen lassen. Aber

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