Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Jahren hab ich davon geträumt. Und so machen wir das jetzt endlich. Soviel Respekt könnt ihr einer armen Alten, die vielleicht nicht mehr lange zu leben hat, ja wohl entgegenbringen.«
»Hör doch auf, Marry. Du bist doch wunderbar in Form. Und besonders alt bist du auch nicht.«
Marry machte abermals auf dem Absatz kehrt, sagte kein Wort und marschierte davon. Sie zog das eine Bein heftig nach. Mit rhythmischem Hinken verschwand sie in der Küche. Hanne hatte beim Einzug gemessen, war die Entfernung abgeschritten, als sie sich ungesehen geglaubt hatte: sechzehn Meter vom Sofa zur Küchentür. Vom Eßzimmer bis ins größere Badezimmer waren es elf Meter. Vom Schlafzimmer bis zur Haustür sechseinhalb. Die Wohnung schien sozusagen aus Entfernungen zu bestehen.
Sie goß sich aus einer stählernen Thermoskanne neuen Kaffee ein und schaltete den Fernseher ein.
Zum allerersten Mal hatte sie sich über Weihnachten freigenommen. Ganze zwei Wochen. Nefis und Marry hatten alle Welt zu einem ausgiebigen Frühstück am Ersten Weihnachtstag eingeladen, und zwischen den Jahren hatten sie allerlei Mittagessen geplant, zu Silvester dann ein großes Fest. Am Heiligen Abend selbst aber würden sie unter sich sein. Glaubte Hanne. Man wußte ja nie.
Hanne Wilhelmsen fürchtete sich vor diesem Fest, und zugleich freute sie sich darauf.
Das Fernsehen brachte eine Verfilmung der Weihnachtsgeschichte. Das Jesuskind hatte seltsamerweise blaue Augen. Maria war stark geschminkt und hatte blutrote Lippen. Hanne schloß die Augen und stellte den Ton leiser.
Sie versuchte, nicht an ihren Vater zu denken. In letzter Zeit kostete das immer zuviel Kraft.
Der Brief hatte sie zu spät erreicht. Es war jetzt drei Wochen her. Hanne ging davon aus, daß ihre Mutter ihn ganz bewußt mit der Post geschickt hatte. Alle wußten schließlich, daß auf die Post kein Verlaß mehr war. Die Todesanzeige war sechs Tage unterwegs gewesen. Und als der Brief ankam, hatte die Beerdigung schon stattgefunden. Was im Grunde ja keine Rolle spielte. Hanne wäre doch nicht hingegangen. Sie konnte sich alles lebhaft vorstellen: die Familie in der ersten Reihe. Der Bruder. Die Hand der Mutter in seiner, eine abstoßende Kralle, überwuchert von Ekzemen, so daß Hautschuppen über die dunkle Hose des Sohnes rieselten. Die Schwester trug eine teure Kreation, sie schluchzte immer wieder laut auf, war aber doch nicht so gebrochen, daß sie nicht auf alle Trauergäste einen überaus eleganten Eindruck gemacht hätte; die Kollegen des Vaters aus dem In- und Ausland, die eine oder andere akademische Berühmtheit, betagte Damen, die ihre Morgentoilette nicht mehr ganz im Griff hatten und deshalb in den Bankreihen den unerträglichen Geruch altmodischen Parfüms verströmten.
Das Telefon klingelte mit einem arabischen Tanz. Marry hatte mit dem Tonmenü experimentiert und gedacht, Nefis werde sich über orientalische Klänge freuen. Hanne nahm ab, damit Marry ihr nicht zuvorkam.
»Billy T. hier«, hörte sie, noch ehe sie etwas sagen konnte. »Du solltest mal hier vorbeischauen.«
»Jetzt? Es ist schon nach elf.«
»Trotzdem. Riesensache.«
»Morgen ist mein letzter Arbeitstag vor den Ferien, Billy T. Das bringt ja wohl nichts, daß ich mich an einen Fall mache, wo ich dann wirklich nur noch den Anfang mitkriege.«
»Die Ferien kannst du dir abschminken, Hanne.«
»Spinn hier nicht rum. Bis dann. Ruf jemand anders an. Ruf die Polizei an.«
»Sehr komisch. Komm schon. Vier Leichen, Hanne. Mutter, Vater, Sohn. Und dann noch einer, von dem wir nichts wissen.«
»Vier … vier Leichen? Vier Ermordete?«
»Yep. Und das ganz in deiner Nähe. Wenn du willst, sehen wir uns da.«
»Quadrupelmord …«
»Hä?«
»Soll das heißen, daß wir es mit einem vierfachen Mord zu tun haben?«
Aus dem Hörer kam ein demonstratives Seufzen.
»Wie oft muß ich das denn noch wiederholen«, fragte Billy T. wütend. »Vier Tote. In einer Wohnung in der Eckersbergs gate. Allesamt erschossen. Grauenhafter Anblick. Die Leichen sind nicht nur durchsiebt, sondern … es war … danach war noch irgend etwas hier. Ein Tier. Oder so …«
»Herrgott …«
Auf dem Bildschirm klopfte Josef jetzt in der Abenddämmerung an Türen. In einer kurzen Großaufnahme seiner Hand, die an eine rustikale Tür in Bethlehem pochte, stellte Hanne fest, daß der Schauspieler vergessen hatte, seine Uhr abzulegen.
»Absurd«, murmelte sie. »Ein Tier?«
»Ein Hund, nehmen wir an. Er hat … sich bedient,
Weitere Kostenlose Bücher