The Vampire Diaries - Stefan's Diaries - Schatten des Schicksals: Band 5 (German Edition)
Kapitel Eins
Der schrille Pfiff des Zuges durchschnitt die Stille des Abteils und schreckte mich aus meinem Tagtraum. Wachsam richtete ich mich auf. Wir reisten luxuriös in der Ersten Klasse. Auf dem Tischchen zwischen den dicken, mit Samt gepolsterten Sitzbänken stand ein Teller mit frischen Sandwiches, daneben lag ein Stapel Zeitungen. Vor dem Fenster zog eine üppige grüne, lebendige Landschaft vorüber, ab und zu war auf den Weiden sogar eine Rinderherde zu sehen. Es fiel mir schwer, die Ruhe und Schönheit der Umgebung in Einklang zu bringen mit dem Grauen und der Verwirrung, die von mir Besitz ergriffen hatten.
Mir gegenüber saß Cora, eine kleine, in Leder gebundene Bibel aufgeschlagen auf dem Schoß. Sie blickte unaufhörlich aus dem Fenster, als könne ihr die Welt dort draußen die Antworten geben, die ich ihr schuldig blieb. Cora, ein unbedarftes Mädchen, das völlig unvorbereitet in die Welt der Vampire gestolpert war, hatte gerade erst erfahren müssen, dass ihre eigene Schwester sich in einen dieser blutdürstigen Dämonen verwandelt hatte.
Noch vor einer Woche war mein Leben so angenehm gewesen, wie ich es mir nur erhoffen konnte– wenngleich ich es nicht gerade gut nennen würde, waren die einfachen Freuden– goldene Sonnenuntergänge, sonntägliche Familien-Abendessen– doch stets getrübt durch die Tatsache, dass ich nach wie vor meiner Blutgier ausgeliefert war. Aber mein Leben war in friedlichen Bahnen verlaufen. Und nach all den Jahren der Flucht vor meinen Feinden und meinen eigenen Schuldgefühlen hatte ich Frieden mehr als alles andere nötig.
Noch vor einer Woche hatte ich auf Abbott Manor als Verwalter gearbeitet und meine größte Sorge war gewesen, dass der Weidenzaun repariert werden musste.
Noch vor einer Woche hatte ich mit einem Glas Sherry und einem Band Shakespeare in einem bequemen, mit rotem Samt bezogenen Sessel im Wohnzimmer der Abbotts gesessen. Obwohl ich meinen Hunger mit dem Blut von Eichhörnchen oder Spatzen stillen musste, genoss ich den Duft des Bratens, den Mrs Duckworth, die Haushälterin der Familie, zubereitet hatte.
Noch vor einer Woche hatte ich zugesehen, wie Oliver Abbott und sein älterer Bruder Luke ins Haus gestürmt kamen, beide schmutzig vom Spielen im Wald. Aber statt sie zu schelten, hatte Gertrude, ihre Mutter, sich einfach nur gebückt und eins der orangefarbenen Ahornblätter aufgehoben, die sie mit hereingetragen hatten.
» Wunderschön! Ist der Herbst nicht zauberhaft?«, hatte Gertrude entzückt ausgerufen und das Blatt betrachtet, als sei es ein kostbares Juwel.
Bei dem Gedanken daran wurde es mir schwer ums Herz. Samuel war schuld, dass der kleine Oliver jetzt unter solchen Herbstblättern begraben lag. Gertrude und der Rest der Familie Abbott– George, der Hausherr, Luke und die Jüngste, Emma– waren verschont geblieben, aber ich konnte mir das Grauen, mit dem sie jetzt lebten, nur allzu gut vorstellen. Samuel hatte sie mit einem Bann belegt, sodass sie glaubten, ich sei derjenige gewesen, der Oliver entführt und getötet hatte. Er wollte damit eine offene Rechnung begleichen, von der ich nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab– noch nicht einmal jetzt war ich mir sicher, wie es dazu gekommen war.
Ich schloss die Augen. Damon hatte das Abteil gerade verlassen, um wahrscheinlich von irgendeinem Mitreisenden zu trinken. Normalerweise gefiel mir seine unerschütterliche Vorliebe für menschliches Blut nicht. Aber jetzt war ich dankbar für die Stille. Unsere Flucht von Abbott Manor lag mehrere Stunden zurück, und ich begann endlich, mich zu entspannen. Meine Schultern lockerten sich etwas, und mein Herz hörte auf, wie rasend gegen meinen Brustkorb zu hämmern. Für den Moment waren wir sicher. Aber ich wusste, dass sich das in London ändern würde.
Ich schaute auf die Bibel, die immer noch aufgeschlagen auf Coras Schoß lag. Ein sehr zerlesenes Exemplar, der Einband ausgefranst, die Seiten übersät mit Flecken. Aber es gab darin nichts, was Cora– oder Damon oder mir– in diesem Abteil der Verdammten hätte helfen können.
Plötzlich hörte ich Schritte im Gang. Mein Herz schlug wieder schneller. Ich machte mich darauf gefasst, uns gegen jeden zu verteidigen, der gleich in unserem Abteil stehen würde: Samuel, Henry oder irgendein anderer Vampir, dem ich vielleicht noch gar nicht begegnet war. Ich merkte, wie Cora sich vor Angst verkrampfte. Jemand versuchte, den Vorhang des Abteils aufzuziehen. Da erkannte ich
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