Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Unerträglichkeit dieser Vision Kittler dazu gebracht haben könnte, sich um die Jahrtausendwende (möglicherweise aus explizit erfaßten philosophischen Gründen, eher aber wohl unter einem weitgehend selbsterzeugten existentiellen Druck) der Kultur des antiken Griechenland zuzuwenden und zugleich der Energie seiner mythographischen Impulse freieren Lauf zu lassen – obwohl er die Gesten einer Selbstverpflichtung auf strikte Faktizität nie aufgab. Am Ende seines Lebens dann, mit schwindenden physischen Kräften an seinem Griechenland-Werk arbeitend, gingen die Momente der Selbstentbergung des Seins in Kittlers Auseinandersetzung mit der Elektronik zu weniger apokalyptischen, ja beinahe ans Heitere anklingende Tönen über. In seinem Heidegger-Aufsatz aus dem Jahr 2008 erfaßte er als Wahrheit der »Computertechnik« eine neue »Ontologie der Ferne« und der Nähe, die wir meinen, wenn wir von »Globalisierung« sprechen und in »Globalisierung« leben: »Mir scheint, für eine Ontologie der Ferne ist dieser, auf die Computertechnik gegründete Begriff von Globalisierung weittragender und maßgeblicher als alle Versuche, sie von traditionellen Massenmedien wie Radio, Film und Fernsehen herzuleiten, wie das bis heute in der Mediengeschichte üblich ist« (S. 386).
Überraschender, radikaler und noch freundlicher war eine Stelle in Friedrich Kittlers Mosse-Lecture aus dem Jahr 2007: »Solange wir – Konzernen wie IBM und Microsoft ergeben – Computer immer nur ›top-down‹ entwerfen, von Bill Gates’ Geschäftskalkül hinunter zu den vielen Einzelteilen, treiben wir (Männer, Programmierknechte, Stanford-Studenten) bloß Mimesis, ja Mimikry an jenen einen Gott, der ohne jede Frau und Liebhaber als Schöpfer auszukommen glaubt. Wundern wir uns daher nicht, wenn die Computer sich mit Bugs und Lügen rächen. Würden wir sie nämlich liebevoller ›bottom-up‹ entwerfen, würde vieles anders. Wir können zwar nicht mehr Milliarden Dollars mit der Lüge namens Software scheffeln, doch HAL empfinge von uns Programmierern – streng nach Turing – nacheinander Sinne, Muskeln und ein Herz. Computer wären Embryonen, die in einem Mutterschoß (um mit Homer zu rechnen) zehn lange Monde wachsen und gedeihen. Dann geben wir sie frei – wie jeder Mutterschoß sein Kind« (S. 375-376). In diesem Zitat begegnen wir ein letztes Mal dem Mythographen Friedrich Kittler – dem Mythographen in Hochform, meine ich, weil gerade das, was der Freiheit und Produktivität seiner Imagination entspringt, als Produkt eines strikten Kompetenz-Diskurses präsentiert wird (es spricht nun wieder der »Programmierer«, der die »Lüge namens Software« durchschaut).
Diese spezifische Rollen-Selbstzuweisung gehörte ja wie sein diskreter Anti-Amerikanismus (»Bill Gates’ Geschäftskalkül«) eigentlich zu einer früheren Phase in Kittlers Werk, zu jener Phase nämlich, die Mitte der neunziger Jahre in den apokalyptischen Endpunkt von der »Nacht der Substanz« und der konsequenten Entmachtung des Subjekts gemündet war. Sein Ton und seine Vision waren aus Zeiten gekommen, als elektronische Kommunikation noch synonym war mit dem »Programmieren« eines Computers, was nur wenigen Initiierten vorbehalten schien (zu denen sich Friedrich rechnete) und die große Mehrheit der Zeitgenossen ausschloß. Unvorstellbar war damals jene heutige Situation, die sich erst abzuzeichnen begann, seit Computer durch Dispositive wie den Apple-Screen oder die Maus ›benutzerfreundlich‹, »zuhanden« – und am Ende zu einem Teil unseres Alltags im Status vonKörperteilen wurden. Aber hat nicht diese von Friedrich Kittler bis zum Ende seines Lebens so verachtete Entwicklungstendenz der elektronischen Welt, muß man fragen, jene Tendenz, deren emblematische Gestalt Steve Jobs war, heute das schon längst herbeigeführt, wovon er träumte, nämlich »Computer mit Sinnen, Muskeln und Herz«? Das ist keine bloß ›rhetorische‹ Frage. Vielmehr steckt sie als eine von Friedrich Kittlers Denken ermöglichte offene Frage den Horizont der Diskussion ab, welche mittlerweile, in der Gegenwart der ›Apps‹, dringend zu führen ist hinsichtlich der vollzogenen und sich vollziehenden Metamorphosen im Selbstbild der Menschen. Immerhin haben diese noch ganz neuen technischen Supplementierungen unserer geborenen und gewachsenen Körper eine Affinität zu jenem Bild, das für Friedrich – unter Lacans Anregung wohl – im Vordergrund stand: zu einer
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