Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
zu benennen, deren Gesamtkonzeption Friedrich Kittler immer unterstellte, aber nie systematisch explizierte, um nachvollziehen zu können, daß die monistische Beschreibung von Phänomen-Konfigurationen, wie sie zentral in Kittlers Denk-Form war, potentiell immer schon den Status eines Verweisens auf entborgenes Sein hatte. Solche – seinsgeschichtlich schon entborgenen – Phänomen-Konfigurationen weiter freizulegen, glaube ich, verstand Kittler als seine historische und philosophische Arbeit; sie zu befreien von Projektionen des Bewußtseins, um sie dann in ihren rein materiellen Strukturen oder in ihren blinden Abläufen als ›Klartext‹ herausheben zu können. Beim Freilegen und Beschreiben in dieser seinsgeschichtlichen Dimension erreichte Friedrich Kittlers Sprache einen indikativischen Ernst und ein Pathos, die ihn zum Mythographen machten. Doch sein Beschreiben, hätte er selbst wohl gesagt, war nicht das Beschreiben eines außen stehenden und von außen projizierenden Beobachters,sondern ein Anschreiben des sich entbergenden Seins – als dessen gleichsam seismographisches Instrument er sich fühlte.
Wahrheit
Spätestens seit der Einführung in die Metaphysik von 1935, in der sich deutlich Martin Heideggers Abwendung von der früheren existential-ontologischen Phase seiner Philosophie hin zur seinsgeschichtlichen Konzeption abzeichnet, wurde zunehmend deutlich, daß die Technik der Gegenwart der besondere Ort und die besondere Dimension war, wo es zu Wahrheitsereignissen kommen konnte. Heidegger betonte immer wieder vor allem zwei Tendenzen im Umgang mit dieser Dimension, welche das, was er und seine Zeitgenossen dem Sein schulden sollten, nämlich Ereignisse der Selbstentbergung, unwahrscheinlich machten. Das war zum einen der Hang, Dispositive der Technik ausschließlich in praktischen Zusammenhängen wahrzunehmen, wo sich ihre materielle Seite (›Erde‹) nicht zeigt, und zum anderen der Habitus, sich der Substantialität ihrer Gegenwart zu entziehen durch ihre Transformation in Potentiale (›Gestell‹). Dennoch wich Heidegger nie mehr ab von der Option, daß Technik und ihre Zuhandenheits-Beziehung zum Dasein – im Gegensatz zu der allenthalben als intellektuell nobler angesehenen Naturwissenschaft – für seine Gegenwart der Vorzugs-Ort für Wahrheitsereignisse sei. Heute wirkt diese Prämisse und ihre Konsequenz, daß nämlich ein Durchdenken unserer technischen Umwelt der zentrale Teil jeder Analyse der Gegenwart sein soll – ganz anders als um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts und zumal unter ökopolitischen Voraussetzungen –, keinesfalls mehr überraschend oder innovativ.
Martin Heidegger aber starb mit der Befürchtung, daß diese das Sein entbergende Fokussierung auf die Technik noch nicht gelungen sei – darauf läßt sich sein berühmter Ausruf in dem 1966 gegebenen und 1976, nach seinem Tod, veröffentlichten Spiegel -Interview beziehen: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« [5] Heideggers Denken endete, bevor die Medien elektronischer Kommunikation Teil der globalen Menschheits-Umwelt wurden – undman kann deshalb die retrospektive Vermutung wagen, daß sich seine Intuition von einer Selbstentbergung des Seins in der Technik überhaupt erst unter massiv elektronischen Bedingungen erfüllen konnte. Aber dies ist nicht mehr als eine Neben-Spekulation. Als entscheidend hingegen im Blick auf Friedrich Kittlers Werk – und als Antwort auf die Frage nach der Singularität seines Werkes – sehe ich die Behauptung an, daß in seinem Denken gelungen ist, was Heidegger unabgeschlossen ließ und vielleicht unabgeschlossen lassen mußte, daß Friedrich Kittlers Durch-Denken der elektronischen Technik der Status eines Wahrheitsereignisses zukommt, eines Wahrheitsereignisses möglicherweise, das sich als Sequenz aus mehreren Momenten der Selbstentbergung des Seins vollzogen hat (so wie man sich heute den Ursprung des Universums nicht als einen einzigen ›Big Bang‹, sondern als eine Kettenreaktion aus mehreren ›Big Bangs‹ vorstellt).
Die erste Phase der Selbstentbergungs-Sequenz mag in dem mythographisch dunklen Endstadium von Friedrich Kittlers vor allem mediengeschichtlichen Jahren gelegen haben, als er elektronische Technik als selbststeuernd und rein substantiell (»keine Software«) beschrieb, als Bewußtsein und Autonomie des klassischen Subjekts nicht nur reduzierend, sondern absolut ausschließend. Ich habe angedeutet, daß die existentielle
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