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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
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auch ohne Ariadnefaden zu optimieren, Shannon selber allerdings etwas Unsichtbares optimiert hat: die Telephonnetze Amerikas.
    GRAPHEN. Erst seit 1770 hat die Mathematik begonnen, mit solchen Netzen zu rechnen. Topologie und Graphentheorie bilden die Moderne nicht nur ab, sie haben sie gestartet.
    Abbildung 2: Plan von Königsberg. Aus: Geburt einer Hauptstadt am Horizont , hg. von Dietmar Steiner, Georg Schöllhammer, Gregor Eichinger, Christian Knechtl, Wien 1988, S. 510 f..
    Damals führten in einer Stadt, die noch Königsberg hieß, sieben Brücken über den Pregel. Eine Stadt ist eben nicht nur »das Korrelat einer Straße« (Deleuze/Guattari), sondern in ihrer Vernetzung mit Flüssen, Kanälen und Nachrichtenwegen »die Kreuzungsstelle aller dieser Bahnen« (Heidegger). Was Leonhard Euler, den vom mittelalterlichen Basel zur neuen Hauptstadt St. Petersburg berufenen Mathematiker, zu der Frage bewog, ob es möglich wäre, auf ein- und demselben Rundweg alle sieben Pregelbrücken genau einmal zu überqueren. Eulers Beweis, daß es nie und nimmer geht, löste die erste Frage einer Mathematik, die von topographischen Daten wie Straßenlängen, -krümmungen und -winkeln völlig absieht, den Stadtplan Königsbergs also genausogut auf ein beliebig dehnbares Gummituch hätte zeichnen können. In der Graphentheorie gibt es nur die zwei abstrakten Elemente von Ecke und Kante, aus denen dann aber alle Strukturen des Räumlichen wiedererstehen: Bäume und Sterne, Knoten und Brücken, Ringe und Henkel, Gegenden, Länder und Landkarten.
    Place de l’Etoile, Ringstraße, Anulare: inzwischen kennen wir sie alle, diese Graphen. Stadtverkehrskarten verzeichnen Straßen und Schienen ja auch nicht mehr konkreter als jene Gummituchgeometrie. »Der Raum, in dem die moderne Stadt ihre Struktur entfaltet, ist ersichtlich ein abstrakter Raum, wo die einzigen Zwänge von topologischer Ordnung sind; von der Entfaltung dieser Strukturher gesehen, ist das Territorium einfach eine Oberfläche ihrer Aktualisierung« (Gille).
    Was damit, nach der topographischen Leidenschaft des 19. Jahrhunderts und das heißt der Generalstäbe, wiederkehrt, gleicht den ältesten Landkarten: Auf der Tabula Peutingeriana, die ja das nachmalige St. Pölten als Relaisstation der römischen Staatspost verzeichnete, waren die Nord-Süd-Abstände (wohl um das Medium Landkarte selbst leichter über Land zu transportieren) so sehr gestaucht, daß vom Land, Meer und Gebirge kaum Spuren blieben. Ein Imperium, das römische, als reine Medienlandschaft.
    KREUZUNGEN. Immerhin, Straßen zwischen Städten waren die einzige Verbindung, die die Peutingeriana verzeichnete. Von anderen Lebensadern wie Aquädukten oder gar den »schattenlosen Straßen« der See, wie Hölderlin schrieb, konnte die römische Staatspost absehen. Grenzstädte blieben also Ecken einer Kante, Relaisstationen Ecken von zwei Kanten, während Rom, wohin alle Straßen ja sprichwörtlich führten, die Ecke eines ganzen Kreuzungssystems bildete. Aber weil das Straßensystem von keinem anderen geschnitten wurde, reichte eine Ebene zur Darstellung des Graphen. Die technologische Wucherung von lauter Medienkanälen verbietet genau das. In einem bekannten Schulbeispiel sollen drei Häuser an drei Energieversorgungssysteme – Gas, Wasser und Elektrizität – angeschlossen werden, ohne daß auch nur eine dieser Leitungen eine andere kreuzt. Aber dieser sogenannte GWE-Graph ist kein ebener; man könnte die verschiedenen Leitungen nicht »plätten«. Eine Stadt ist kein plättbarer Graph. In ihr überlappen sich Netze mit Netzen. Jede Verkehrsampel, jeder Umsteigebahnhof und jedes Postamt, aber auch alle Kneipen oder Bordelle erzählen davon. Deshalb gibt es Brücken nicht nur über den Pregel und Eisenbahnviadukte nicht nur über die Traisen. Sicher haben moderne Stadtplaner versucht, die Netze von Chandigarh, Brasilia und anderen Neugründungen am Muster des Baum-Graphen auszurichten, dessen Äste und Zweige Kreuzungen ja nicht kennen, also plättbar sind. Aber »eine Stadt ist kein Baum«, sondern ein »Halbgitter«, dessen Überlappungen zum System selber gehören (Alexander).

    Abbildung 3. Aus: Geburt einer Hauptstadt am Horizont , hg. von Dietmar Steiner, Georg Schöllhammer, Gregor Eichinger, Christian Knechtl, Wien 1988, S. 510 f..
    HAUPTSTÄDTE potenzieren diese Regel nur noch. Es ist nicht allein der Staat mit seinem Limes oder Grenzsystem, seiner selbstinduzierten »Resonanz« also

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