Die Wahrheit hat nur ein Gesicht (German Edition)
brüchig, sie räusperte sich:
»Was eben geschehen ist, wird nicht wieder passieren. Und jetzt möchte ich, dass du gehst, Alex. Und zwar sofort!«
Sie sah, wie sich sein Blick verhärtete. Sie hatte ihn gekränkt, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie hielt seine Nähe nicht eine Sekunde länger aus. Ihr Verstand war gefährdet.
Sie starrten sich an, regungslos. Dann drehte sich Alex um und ging. Emma sah ihm nach. Mit zitternden Händen zündete sie sich endlich ihre Zigarette an. Noch immer brannte ihr Körper von seiner Berührung. Sie nahm einen tiefen Zug. Warum hatte das alles nur so kommen müssen?
Alex blieb heftig atmend vor dem Friedhof stehen. Er war fast nach draußen gerannt und konnte kaum fassen, was geschehen war. Aufgebracht verpasste er einem Stein einen heftigen Tritt. Er war wütend. Wütend auf Emma aber auch wütend auf sich selbst, denn er hatte sich vor der Beerdigung fest vorgenommen, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie nicht anzusprechen, geschweige denn, am Grab ihre Hand zu halten.
Ihre Hand? Er hatte seine Hand auf ihre Hüfte gelegt und die Berührung erzeugte noch immer einen sehnsüchtigen Schmerz. Und dann hatte er sie auch noch umarmt. Es war fast automatisch geschehen. Sein Körper wurde von ihr angezogen wie von einem Magneten und war willentlich fast nicht mehr zu steuern. Er jedenfalls hätte sich nicht von Emma lösen können. Dieser verdammte Paparazzi! Und danach war sie wie Eis.
Er fühlte sich bloßgestellt und verletzt. Er hätte seinem Verstand folgen und nicht zu dieser Beerdigung gehen sollen. Er hatte eigentlich auch gar nicht hingehen wollen. Vor fünf Jahren hatte er jeden Kontakt abgebrochen und dabei hätte es bleiben sollen!
Margaret Cavendish hatte ihn als jungen Pianisten entdeckt. Ihn, den kleinen Musiker und ihn zu ihrem musikalischen Begleiter gemacht. Er hatte mit ihr die Konzertbühnen der Welt bereist und an ihrer Seite war er immer erfolgreicher geworden. Nach der Katastrophe hatte er sich schuldig und undankbar gefühlt, aber er konnte nicht mit ihr darüber reden. Nicht über das, was sich zwischen ihm und ihren Töchtern abgespielt hatte. Er schämte sich zu sehr. Und dann verunglückte auch noch Tatjana.
Und heute wäre er auf keinen Fall zu dieser Beerdigung gegangen, wenn er nicht einen Brief von Margarets Anwalt erhalten hätte. In diesem Brief stand, dass es Margarets ausdrücklicher Wunsch war, dass Alex auf ihrer Beerdigung die Orgel spielte. Da hatte er schlecht nein sagen können.
Ihm war klar, dass er dabei Emma begegnen würde. Und er hatte sich innerlich für die Begegnung gewappnet. Hatte sich fest vorgenommen, distanziert und kühl zu bleiben. Doch ihre Zerbrechlichkeit und Trauer hatten ihn schachmatt gesetzt. Sie wirkte in der Kirche so unendlich einsam, zart und beschützenswert, dass er sie am liebsten sofort in den Arm genommen hätte.
Und dann ihre Wärme, sie zu berühren, ihr Duft! Alex biss die Zähne zusammen, aber die Erinnerungen kamen mit Wucht, die Verdrängung über die Jahre hatte nichts gebracht.
Und sie war noch so viel schöner geworden. Nicht mehr das liebenswerte, kleine Mädchen, das ihn anbetete, sondern eine begehrenswerte, junge Frau. Das alles hatte sie aber, mit ihren letzten Worten am Grab zerstört. Sie hatte ihn benutzt und danach kalt abserviert. Wie damals. Auch damals hatte sie ihn abserviert. Auf eine andere Art, die er ihr nie verzeihen würde. Niemals!
2
Am nächsten Morgen betrat Emma mit gemischten Gefühlen das Büro von
Notar Henry Dillingham. Er war ein langjähriger, enger Freund ihrer Mutter, den Emma schon seit ihrer Kindheit kannte. Das machte die Angelegenheit für sie nicht leichter. Da er Margaret so gut gekannt hatte, hatte er sich vermutlich auch schon längst ein negatives Urteil über ihre missratene Tochter gebildet.
»Willst du einen Tee, Emma?«
Emma zuckte zusammen, die intime Anrede war zwar verständlich, irritierte sie aber in dieser Situation. Immerhin ging es um Erbschaft. Über die finanzielle Situation ihrer Mutter hatte sich Emma nie Gedanken gemacht. Sicher, sie wusste, dass ihre Mutter als berühmte Sopranistin natürlich sehr vermögend war, aber dass sie, als einzige Erbin dieses Geld einmal bekommen würde, darüber hatte sie nie groß nachgedacht. Der Tod ihrer Mutter kam auch so überraschend und war so schmerzhaft, dass solche Dinge, wie Erbschaft darüber völlig in den Hintergrund gerieten.
»Ja, danke, eine Tasse Tee wäre schön.«
Der Notar blickte
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