Die Wahrheit hat nur ein Gesicht (German Edition)
und er wusste die Antwort bereits. Natürlich. Seit damals.
Seit damals? Das stimmte nicht ganz. Emma hatte zwar nach der Trennung von Alex ein Jahr überhaupt nicht gesungen. Aber dann war die Sehnsucht danach so groß geworden, dass sie sich in Florenz einen Gesangslehrer suchte.
Sie hatte Glück. Maestro Montegno war eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Er hatte sofort ihr Potenzial erkannt und sie optimal gefördert. Er wollte, dass sie öffentlich auftrat, doch Emma weigerte sich. Sie war nicht überzeugt von ihrer Kunst. Ihre Mutter war die große Sängerin. Sie würde diesem Anspruch nie genügen. Außerdem wollte sie nicht Gefahr laufen, Alex wieder zu begegnen. Doch genau das war jetzt geschehen. Sie stand ihm gegenüber, fünf Jahre später, am Grab ihrer Mutter.
Zwischen ihnen lag ein unausgesprochener Berg an Vorwürfen und Verletzungen. Die Spannung war kaum auszuhalten war. Sie starrten sich an.
»Emma!« Alex kam einen Schritt näher.
Was tat er da? Sie fühlte sich von ihm angezogen, wie von einem Magneten.
Er hob seine Hand und berührte ihr Haar und dann zog er sie an sich. Sie ließ es geschehen und so standen sie da, bewegungslos, hielten den Atem an und versuchten zu begreifen, was mit ihnen geschah.
»Emma Cavendish?«
Emma drehte sich um, dann blitzte es. Vor ihr stand ein Fotograf, die Kamera im Anschlag. Er hatte ein Foto von ihr gemacht: Emma, am Grab ihrer Mutter, im Arm von Alex Landon.
»Wie können Sie es wagen?« Empört schlug Emma mit ihrer Tasche nach dem Fotografen.
»Verschwinden Sie!« Alex ging drohend auf ihn zu.
Der Mann hüpfte erschrocken ein paar Schritte rückwärts. Dann gab er Fersengeld. Als er außer Reichweite war, drehte er sich noch mal um:
»Ich werde einen Artikel über Sie schreiben, Miss Cavendish! Lesen Sie die SUN!« Dann verschwand er.
Emma und Alex starrten ihm nach.
»So ein Wichser!« Alex ärgerte sich, dass er ihn nicht gepackt, ihm die Kamera weggerissen und die Aufnahme zerstört hatte. Aber nun war es zu spät.
Emma rieb sich erschöpft die Stirn: »Dagegen kann man nichts tun, oder?«
»Nicht wirklich. Das Foto wird erscheinen. Du kannst klagen, aber das ist ein mühsamer Weg.«
»Verstehe.«
Sie sahen sich an. Der Auftritt des Paparazzis hatte den Zauber zwischen ihnen zerstört.
»Emma?« Alex machte erneut einen Schritt auf sie zu, doch Emma wich aus. Der Vorfall hatte sie zurück in die Realität geholt. Eine weitere Umarmung durfte sie nicht zulassen! Nicht am Grab ihrer Mutter und auch sonst nicht. Denn Alex im Arm von Tatjana, dieses Bild quälte sie seit fünf Jahren und es würde sich nicht so einfach in Luft auflösen.
Alex versuchte erneut, sie an sich zu ziehen, aber Emma sperrte sich. »Hör auf, Alex, bitte!«
Er ließ sofort los, doch es fiel ihm schwer. Ihr Haar hatte sich durch die Umarmung gelöst und in weichen Wellen fiel es ihr über die Schulter. Es leuchtete im Sonnenlicht und sie wirkte wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Emma besaß eine natürliche Schönheit, die einfach bezaubernd war. Ihre zarte Gestalt, das schmale Gesicht, mit den großen blauen Augen und dem üppigen, fast überdimensionierten Mund, verliehen ihr etwas Sinnliches. Die dunkelblonden, langen Haare mit den weichen Locken erinnerten an einen Heiligenschein, und sie hätte ohne weiteres in ein Gemälde von Botticelli gepasst. Sie trug ein schwarzes Wollkleid, das in Wickeloptik ihre Schmalheit betonte. Dazu einen breiten, gewebten, schwarzen Schal, den silberne Fäden durchzogen. Was sie trug, war nicht modisch, aber es stand ihr ausgezeichnet. Denn ihre Natürlichkeit und ihre unaufgesetzte Eleganz verwandelten jeden Schlabberpulli in ein extravagantes Designerstück.
Im Augenblick war sie sehr nervös. Ihr Blick wanderte unruhig hin und her und ihre Hände waren in ständiger Bewegung. Eine Gazelle!, fuhr es Alex durch den Kopf. Emma war wie eine scheue Gazelle. Mit einer falschen Bewegung vertrieb man sie sofort. Er ärgerte sich, dass er sie umarmt hatte, denn das war im jetzigen Stadium ihrer Begegnung einfach zu viel.
Emma zog sich die Sonnenbrille wieder ins Gesicht. Alex sollte ihre Augen nicht sehen. Sie waren zu verräterisch. Was sie jetzt sagte, brauchte ihre ganze Kraft:
»Ich danke dir für deine Hilfe, Alex, aber jetzt wäre es schön, wenn ich noch ein paar Minuten mit meiner Mutter allein sein könnte.«
»Emma!« Er versuchte ihre Hand zu nehmen, aber sie trat einen Schritt zurück. Ihre Stimme klang
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