Die Wahrheit über Alice
wie die hier.»
«Leben sie in Sydney?», frage ich.
«Wer?» Sie runzelt die Stirn.
«Deine Eltern.»
«Nein. Nein, Gott sei Dank nicht. Die leben im Norden.»
Ich frage mich, wie Alice es sich leisten kann, in Sydney zu leben, wie sie ihre Miete bezahlt und das hier. Ich hatte angenommen, |21| ihre Eltern würden sie unterstützen, aber das hier hört sich nicht so an.
«Egal», sage ich. «Es ist supernett von dir, so eine große Party für deine Freunde zu schmeißen. Ich glaube, so großzügig
wäre ich nie. Ich würde das Geld lieber für mich ausgeben. Für Reisen oder irgendwas anderes Tolles.»
«Großzügig? Findest du?» Alice zuckt die Achseln. «Finde ich eigentlich nicht. Ich liebe Partys. Besonders wenn ich die Hauptperson
bin. Was Besseres kann ich mir gar nicht vorstellen. Und Reisen interessiert mich sowieso nicht.»
«Im Ernst?»
«Was soll ich in anderen Ländern? Da kenne ich kein Schwein, und kein Schwein kennt mich. Also was soll’s?»
«Oh.» Ich lache und frage mich, ob sie einen Witz macht. «Mir fällt da so einiges ein. Im Mittelmeer schwimmen, den Eiffelturm
sehen, die Chinesische Mauer, die Freiheitsstatue … und kein Schwein kennen. Stell dir mal vor, wie befreiend das sein muss.» Ich merke, dass Alice mich skeptisch ansieht.
«In teressierst du dich wirklich nicht fürs Reisen?»
«Nicht die Bohne. Mir gefällt’s hier. Ich mag meine Freunde. Ich liebe mein Leben. Wieso sollte ich da woandershin wollen?»
«Weil –» Ich will ihr erzählen, wie ungeheuer neugierig ich auf den Rest der Welt bin, wie stark mich fremde Sprachen und Lebensarten
faszinieren, die Geschichte der Menschheit, doch wir werden unterbrochen, weil die ersten Gäste kommen.
«Alice, Alice!», rufen sie, und unversehens ist sie umringt von Leuten. Einige kenne ich von der Schule, andere sind älter,
und ich habe sie noch nie gesehen. Manche sind sehr festlich gekleidet, in langen Kleidern oder Anzug und Krawatte, andere
salopp in Jeans und T-Shirt . Doch eines haben sie alle miteinander gemein: Sie wollen ein Stück von Alice haben, einen Augenblick |22| von ihrer Zeit, sie wollen im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen, sie zum Lachen bringen. Sie wollen alle von ihr gemocht
werden, ohne Ausnahme.
Und Alice kümmert sich um alle. Sie schafft es, dass ihre Gäste sich rundum wohl fühlen. Aus irgendeinem Grund weicht sie
mir trotzdem den ganzen Abend kaum von der Seite. Sie hakt sich immer wieder bei mir unter, führt mich von einer Gruppe zur
nächsten und bezieht mich in jede Unterhaltung mit ein. Wir tanzen zusammen und lästern darüber, wie manche sich angezogen
haben, mit wem sie flirten, wer wen anscheinend attraktiv findet. Ich amüsiere mich köstlich und habe so viel Spaß wie schon
seit Jahren nicht mehr. Und die ganze Zeit denke ich kein einziges Mal an meine Schwester oder an meine gebrochenen Eltern.
Ich tanze und lache und flirte. Ich vergesse für eine Weile die Nacht, in der ich die schreckliche Wahrheit über mich selbst
erkannte. Ich vergesse die Nacht, in der ich den beschämenden, schäbigen Feigling auf dem Grund meiner Seele entdeckte.
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N ach Alice’ Party ist man an der Schule spürbar freundlicher zu mir. Schüler, die ich noch nie gesehen habe, lächeln mich auf
dem Flur an oder nicken mir zu, und einige sagen sogar Hey, Katherine! Sie kennen erstaunlicherweise meinen Namen. Und in
der Mittagspause setzt sich Alice neben mich und bringt mich mit Geschichten über andere Schüler zum Lachen, Klatsch und Tratsch
über Leute, die ich kaum kenne. Es ist lustig, und ich freue mich richtig über ihre Gesellschaft. Ich bin froh, nicht mehr
allein zu sein.
Ich denke nicht zu viel darüber nach, warum sie den Kontakt zu mir sucht. Schließlich war ich selbst auch mal beliebt und
bin es gewohnt, gemocht zu werden. Alice sagt, sie will meine Freundin sein. Sie ist anscheinend gern mit mir zusammen, und
sie hört bei allem, was ich sage, aufmerksam zu. Daher bin ich dankbar und geschmeichelt und erfreut. Und zum ersten Mal seit
Rachels Tod empfinde ich so etwas wie Glück.
Am Donnerstag nach der Party rufe ich Alice an und lade sie für Samstagabend zu mir nach Hause ein. Ich wohne bei meiner Tante
Vivien, der Schwester meines Vaters. Vivien ist warmherzig und locker, und ich wohne gern bei ihr. Ich bin froh, nicht mehr
in Melbourne zu sein und die Highschool irgendwo abschließen zu können, wo niemand von Rachel und den
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