Die Wahrheit über Alice
besonders
einladend, aber nachdem wir vier Etagen hochgetrabt sind und atemlos an ihrer Wohnung ankommen, öffnet sie die Tür zu einem
Zimmer voller Farbe und Wärme.
|16| Die Wände sind in einem satten dunklen Orange gestrichen und mit großen, knalligen abstrakten Bildern behängt. Burgunderrote
Überwürfe und farbenfrohe Kissen im Ethno-Look verschönern zwei wuchtige, weich aussehende Sofas. Auf jeder freien Fläche
stehen Kerzen.
« Voilà!
Mein bescheidenes Heim
.
» Alice zieht mich herein und beobachtet gespannt mein Gesicht. Ich sehe mich im Raum um. «Wie findest du’s? Ich hab alles
selbst gemacht, weißt du. Du hättest mal sehen sollen, wie’s hier aussah, als ich eingezogen bin, total öde und langweilig.
Aber du glaubst nicht, wie ein bisschen Farbe einen Raum verändern kann. Eigentlich braucht man nur ein paar Ideen und einen
Eimer knallige Farbe.»
«Ich find’s echt cool», sage ich. Und bin unwillkürlich ein wenig neidisch. Alice’ Zimmer ist richtig abgefahren, so viel
jünger als die moderne, minimalistische Wohnung, in der ich lebe.
«Ehrlich? Es gefällt dir wirklich?»
«Ja», sage ich und lache. «Ganz ehrlich.»
«Da bin ich echt froh. Du sollst dich hier nämlich genauso wohl fühlen wie ich, weil ich vorhabe, ganz oft mit dir zusammen
zu sein. Und ich kann mir richtig vorstellen, wie wir hier in diesem Zimmer ganz viel Zeit miteinander verbringen, wie wir
quatschen und quatschen und quatschen und uns bis tief in die Nacht gegenseitig unsere Geheimnisse anvertrauen.»
Es heißt, charmante, beeindruckende Menschen verstünden es, einem das Gefühl zu geben, man wäre der einzige Mensch auf der
Welt, und jetzt wird mir klar, was damit gemeint ist. Ich bin nicht ganz sicher, was sie da macht oder wie sie es macht –
jemand anders hätte aufdringlich oder sogar unterwürfig gewirkt –, aber wenn Alice mir so vorbehaltlos ihre Aufmerksamkeit widmet, fühle ich mich kostbar, von der Gewissheit erwärmt, wirklich
verstanden zu werden.
Einen kurzen, verrückten Moment lang stelle ich mir vor, wie |17| ich ihr mein Geheimnis verrate. Ich habe alles ganz deutlich vor Augen. Alice und ich in diesem Zimmer, wir sind beide ein
bisschen beschwipst, kicherig und fröhlich und ein ganz klein wenig verlegen, wie man es eben ist, wenn man das Gefühl hat,
eine neue Freundin gefunden zu haben, eine besondere Freundin. Ich lege meine Hand auf ihr Knie, damit sie still und leise
wird, damit sie weiß, dass ich etwas Wichtiges sagen will, und dann erzähle ich es ihr. Ich erzähle es ihr schnell, ohne zu
stocken, ohne ihr in die Augen zu schauen. Und wenn ich geendet habe, ist sie warmherzig und nachsichtig und verständnisvoll,
genau wie ich es mir erhofft habe. Sie umarmt mich. Alles ist gut, und ich fühle mich leichter, weil ich es erzählt habe.
Ich bin endlich frei.
Aber das ist alles bloß ein Traum. Ein irres Hirngespinst. Ich erzähle ihr nichts.
Ich trage meine übliche Kluft – Jeans, Stiefel und Bluse – und habe etwas Make-up dabei, um mich für die Party anzuhübschen, doch Alice besteht darauf,
dass ich ein Kleid anziehe. Ihr Schrank ist prall gefüllt mit Kleidern in allen möglichen Farben und Längen und Schnitten.
Es müssen mindestens hundert sein, und an manchen hängen noch die Preisschilder. Ich frage mich, woher sie das Geld hat, wie
sie sich so viele Klamotten leisten kann, und schon wieder bin ich versucht zu fragen.
«Ich hab einen kleinen Klamottenfimmel.» Sie grinst.
«Tatsache?», witzele ich. «Wär ich nie drauf gekommen.»
Alice greift in den Schrank und fängt an, Kleider herauszuziehen. Sie wirft sie aufs Bett. «Da. Such dir eins aus. Die meisten
davon hab ich noch kein einziges Mal getragen.» Sie hält ein blaues hoch. «Gefällt’s dir?»
Es ist hübsch, aber ich habe mein Traumkleid bereits entdeckt. Es ist rot mit Paisleymuster, ein Wickelkleid mit Gürtel, offensichtlich
aus irgendeinem Stretchmaterial. Solche Kleider |18| hat meine Mutter in den Siebzigern getragen, und es würde gut zu den hohen Stiefeln passen, die ich anhabe.
Alice beobachtet mich. Sie lacht und greift nach dem roten Kleid. «Das hier?»
Ich nicke.
«Es ist toll, nicht?» Sie hält es vor sich und schaut in den Spiegel. «Und teuer. Es ist von Pakbelle und Kanon. Du hast einen
guten Geschmack.»
«Es ist wunderschön. Warum ziehst du es nicht selbst an? Das Etikett ist noch dran, du hast es noch kein Mal
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