Die Wahrheit über Alice
Boydell-Schwestern gehört
hat. Weil Vivien oft beruflich unterwegs ist, bin ich unter der Woche viel allein, und wenn sie am Wochenende freihat, trifft
sie sich meistens mit Freunden. Sie ermuntert |24| mich häufig, doch mal jemanden einzuladen, und findet es offenbar komisch, dass ich nie unter Leute gehe, aber ich habe mich
an das Alleinsein gewöhnt und genieße es, selbst entscheiden zu können, was ich esse, was ich im Fernsehen gucke, was für
Musik ich höre.
«Ich mach uns was zum Abendessen», sage ich.
«Cool», sagt Alice. «Ich hoffe, du kannst kochen.»
«Kann ich. Das ist eines meiner geheimen Talente.»
«Geheim, hmm?» Alice schweigt einen Augenblick. «Ge heimnisse hast du wohl reichlich, was?»
Ich lache, als wäre der Gedanke absurd.
Am Samstag gehe ich einkaufen. Früher, vor Rachels Tod, als wir noch eine Familie waren, habe ich oft gekocht, daher kenne
ich mich aus und weiß, was ich brauche. Ich kaufe Hähnchenschenkel, Kardamom, Joghurt, Kreuzkümmel, gemahlenen Koriander und
Basmatireis ein, um mein Lieblingscurry zu kochen. So kann ich alles rechtzeitig vorbereiten, bevor Alice kommt, und wenn
sie da ist, kann ich es einfach weiterköcheln und noch mehr Geschmack entfalten lassen, während wir plaudern.
Ich habe mich inzwischen so daran gewöhnt, stets auf der Hut zu sein, alles für mich zu behalten und niemanden an mich heranzulassen,
dass ich erstaunt bin, wie sehr ich mich auf Alice freue. Ich weiß nicht, wann oder wie der Gedanke an Freundschaft und Nähe
für mich so reizvoll geworden ist, doch mit einem Mal finde ich die Vorstellung, Spaß zu haben und jemand Neues kennenzulernen,
geradezu unwiderstehlich. Obwohl ich noch immer Angst davor habe, zu viel preiszugeben, und noch immer weiß, dass Freundschaft
Risiken birgt, kann ich die aufgeregte Vorfreude nicht unterdrücken.
Zu Hause angekommen, bereite ich das Curry zu, dann dusche ich und ziehe mich an. Ich habe noch eine Stunde Zeit, bis Alice
eintrifft, also rufe ich meine Eltern an. Mum und Dad und |25| ich sind vor gut einem Jahr aus Melbourne weggezogen. Dort kannten uns zu viele Leute, und alle wussten, was mit Rachel passiert
war. Irgendwann wurden uns die mitleidigen oder neugierigen Blicke und die unüberhörbaren Tuscheleien zu viel, die uns überall
begleiteten. Ich bin zu Vivien gezogen, um an der Drummond High, einer der größten Highschools in New South Wales, die Schule
zu Ende zu bringen. Sie ist so groß, dass ich hier gut für mich bleiben kann, anonym. Meine Eltern haben zwei Fahrtstunden
weiter nördlich ein Haus, in Newcastle, nicht weit vom Strand. Sie wollten mich natürlich mitnehmen und sagten, ich sei noch
zu jung, um von zu Hause auszuziehen. Aber ich finde ihre Traurigkeit immer unerträglicher und ihre Gegenwart geradezu erstickend.
Schließlich konnte ich sie davon überzeugen, dass die Drummond High genau die richtige Schule für mich ist, ja, dass mein
Glück davon abhängt, dorthin zu gehen. Allein.
«Boydell», meldet sich meine Mutter am Telefon. Ich habe meinen Nachnamen abgelegt, als ich wegzog, und benutze jetzt den
Mädchennamen meiner Großmutter, Patterson. Es war verblüffend leicht, mich von meinem alten Namen zu trennen. Es ist so leicht,
ein neuer Mensch zu werden, zumindest auf dem Papier. Manchmal vermisse ich meinen alten Namen. Aber er gehört zu meinem alten
Ich, dem glücklichen, sorglosen, geselligen Ich. Katherine Patterson passt zu der neuen, stilleren Version. Katie Boydell
gibt es nicht mehr. Rachel und Katie Boydell, die berüchtigten Boydell-Schwestern. Sie sind beide tot.
«Mum.»
«Schätzchen. Ich wollte dich gerade anrufen. Daddy und ich haben über dein Auto gesprochen.»
«Aha?»
«Ja. Jetzt widersprich nicht gleich, Kleines, bitte. Aber wir haben beschlossen, dir ein neues zu kaufen. Die modernen sind |26| viel sicherer, mit Airbags und so weiter. Wir haben das Geld, und wir finden es einfach albern, dich in dieser alten Klapperkiste
rumfahren zu lassen.»
«Der Wagen ist erst acht Jahre alt, Mum.» Ich fahre ihren Volvo, was für jemanden in meinem Alter immerhin schon ein sehr
neues und vernünftiges Auto ist.
Sie redet weiter, als hätte sie mich gar nicht gehört. «Und wir haben da so einen hübschen Peugeot gefunden. Der ist schön
kompakt, ein richtig süßes Auto, wirklich, aber das Allerbeste ist, er hat bei sämtlichen Sicherheitstests erstaunlich gut
abgeschnitten. Er wäre ideal für
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