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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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seiner Corvette auf der Kiesauffahrt von Goose Cove noch seine Stimme, als er das Haus betrat. Nichts hörte ich, denn ich entdeckte in der Schachtel unter den Fotos einen undatierten Brief. Auf dem hübschen Papier stand in kindlicher Handschrift:
    Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Harry, ich schaffe es schon irgendwie zu unserem Treffpunkt. Warten Sie in Zimmer acht auf mich. Ich liebe diese Zahl, das ist meine Lieblingszahl. Warten Sie dort um neunzehn Uhr auf mich. Und dann gehen wir für immer fort.
    Ich liebe Sie so!
    In Zärtlichkeit,
    Nola
    Wer war diese Nola? Mit klopfendem Herzen nahm ich mir die Zeitungsausschnitte vor: In allen Artikeln war vom rätselhaften Verschwinden einer gewissen Nola Kellergan an einem Augustabend des Jahres 1975 die Rede, und die Nola auf den Zeitungsfotos sah exakt so aus wie die Nola auf Harrys Aufnahmen. In diesem Augenblick betrat Harry, die Tür mit dem Fuß aufstoßend, das Arbeitszimmer, in den Händen ein Tablett mit Kaffeetassen und einem Teller Kekse, das er fallen ließ, als er mich, den Inhalt seiner geheimen Schachtel vor mir ausgebreitet, auf dem Teppich hocken sah.
    »Was … Was machen Sie da?«, brüllte er. »Sie schnüffeln herum, Marcus? Ich lade Sie in mein Haus ein, und Sie schnüffeln in meinen Sachen herum? Was sind Sie denn für ein Freund?«
    Ich stammelte ein paar ungelenke Erklärungsversuche: »Ich bin zufällig auf die Schachtel gestoßen, Harry. Ich hätte sie nicht öffnen dürfen … Es tut mir leid.«
    »Das hätten Sie tatsächlich nicht! Wer gibt Ihnen das Recht? Wer gibt Ihnen, verdammt noch mal, das Recht?«
    Er riss mir die Fotos aus den Händen, raffte hastig die Zeitungsartikel zusammen, stopfte alles mit fliegenden Händen in die Schachtel, verschwand damit in seinem Schlafzimmer und schloss sich ein. So hatte ich ihn noch nie erlebt, und mir war nicht klar, ob es sich um Schrecken oder Wut handelte. Vor seiner Tür stehend, erging ich mich in Entschuldigungen. Ich erklärte immer wieder, dass es nicht meine Absicht gewesen sei, ihn zu kränken, dass ich die Schachtel zufällig entdeckt hätte, doch es half nichts. Erst zwei Stunden später kam er wieder heraus und ging schnurstracks hinunter ins Wohnzimmer, um sich ein paar Gläser Whisky zu genehmigen.
    Als ich das Gefühl hatte, dass er sich ein wenig beruhigt hatte, ging ich zu ihm. »Harry, wer ist dieses Mädchen?«, fragte ich leise.
    Er senkte den Blick. »Nola.«
    »Wer ist Nola?«
    »Fragen Sie nicht, wer Nola ist. Bitte!«
    »Harry, wer ist Nola?«, beharrte ich.
    Er nickte. »Ich habe sie geliebt, Marcus. Ich habe sie so geliebt!«
    »Warum haben Sie mir nie davon erzählt?«
    »Das ist kompliziert …«
    »Unter Freunden ist nichts kompliziert.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Da Sie ja nun die Fotos gefunden haben, kann ich es Ihnen eigentlich auch erzählen … Als ich 1975 nach Aurora gekommen bin, habe ich mich in dieses Mädchen verliebt. Sie war damals erst fünfzehn, hieß Nola und war die Frau meines Lebens.«
    Es folgte ein kurzes Schweigen, dann fragte ich aufgewühlt: »Was ist aus Nola geworden?«
    »Das ist eine schlimme Geschichte, Marcus. Sie ist verschwunden. Eines Abends Ende August 1975 ist sie verschwunden. Eine Nachbarin hatte sie zuletzt blutend gesehen. Nachdem Sie die Schachtel geöffnet haben, haben Sie sicher auch die Zeitungsartikel gesehen. Sie wurde nie gefunden. Keiner weiß, was ihr zugestoßen ist.«
    »Wie schrecklich!«, stieß ich leise hervor.
    Er nickte mehrmals.
    »Wissen Sie«, sagte er, »Nola hat mein Leben verändert. Mir hätte es nichts bedeutet, der große Harry Quebert, der bedeutende Schriftsteller zu werden, mir hätten mein Ruhm, mein Geld und mein Erfolg nichts bedeutet, wenn ich nur Nola hätte behalten können. Nichts von all dem, was ich seither zustande gebracht habe, hat meinem Leben so viel Sinn gegeben wie der Sommer, den ich mit ihr verbringen durfte.«
    Noch nie, seit ich Harry kannte, hatte ich ihn so erschüttert gesehen. Er blickte mich prüfend an und fügte dann hinzu: »Marcus, niemand hat je von dieser Geschichte erfahren. Sie sind jetzt der Einzige, der es weiß, und Sie müssen dieses Geheimnis für sich behalten.«
    »Selbstverständlich.«
    »Versprechen Sie es mir!«
    »Ich verspreche es Ihnen, Harry. Das ist unser Geheimnis.«
    »Wenn in Aurora jemand erfährt, dass ich eine Liebesbeziehung mit Nola Kellergan hatte, wäre das vermutlich mein Untergang …«
    »Sie können sich auf mich verlassen,

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