Die Wahrheit und andere Lügen
weglassen und nicht gleich alles auf einmal? Es war ja keine Liebe, die er für Betty empfand, sondern eher zyklisches Verlangen, wie es jeden Mann ganz unabhängig vom Objekt der Begierde überkommt. Wie lange ging das jetzt schon mit ihr? Zählte die erste Begegnung oder erst der Austausch von Körperflüssigkeiten im Strandmotel Meerbrise? Wann war das überhaupt passiert? Martha würde fragen. Die korrekte Antwort erforderte genaueste Prüfung, das war Henry seiner Frau schuldig. Er nahm die Post mit in sein Arbeitszimmer, um in den Unterlagen nachzuschauen, wie lange er seine Frau schon betrog. Wenn schon die Wahrheit, dann präzise.
Bevor er das aber tat, setzte er sich in seinen Ohrensessel und blätterte ein wenig im Forensischen Journal , einer ungemein informativen Fachzeitschrift über das Böse. Wer ein Verbrechen plant oder gerade mit seiner Ausführung beschäftigt ist, sollte Fachliteratur lesen. Sie informiert über Risiken der Enttarnung, bedingt durch die Fortschritte der forensischen Technik. Gleichzeitig wird deutlich, wie vergeblich der Kampf gegen das Böse im Menschen ist, denn keine Methode oder Strafe kann es mit der biologischen Mordlust aufnehmen, die uns allen innewohnt. Tod aus Gier, Rachsucht und Dummheit sind, kulturgeschichtlich gesehen, natürliche Todesursachen, nichts als eine Facette der Condicio humana.
Henry erwachte, als die automatischen Jalousien vor den Panoramafenstern hochfuhren. Es musste bereits früher Abend sein. Er hatte Martha alles gesagt. Schonungslos und vollständig, ganz so wie geplant. Er hatte sich für die hartherzige Variante entschieden, um seiner Frau den Abschied leichter zu machen.
Hör zu, Liebling, hatte er begonnen, ich werde dich jetzt verlassen, weil ich eine andere Frau begehre und dich nicht mehr. Ich kann diese Frau nicht ausstehen, aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich liebe dich, aber du bist keine Fremde mehr für mich, unsere Liebe ist deshalb nur Freundschaft. Sie war es immer, ich konnte dich nie genug verachten, um dich zu begehren â das Aufregende passiert nicht mehr zwischen uns, es ist de facto nie passiert. AuÃerdem ist die andere jünger und schöner als du. Diese Frau und ich, wir kennen uns schon lange. Du kennst sie auch, es ist Betty. Ja, ausgerechnet Betty. Sie ist meine Trophäe, meine Muse, meine Sklavin, ich verachte sie. Wir sind Komplizen, meine niedrigen Instinkte erregen sie, ich vergöttere ihre FüÃe und soll dir von ihr ausrichten, dass es ihr leidtut. Es tut mir auch sehr leid. Versteh mich bitte nicht falsch, ich habe die zärtlichsten Gefühle für dich. Ich verehre dich wie eine Heilige, wollte dich immer beschützen. Das habe ich auch getan, so gut ich konnte, aber jetzt ist mir was dazwischengekommen. Betty kriegt ein Kind von mir. Du wolltest ja keins. Ich will auch keins. Es liegt mir völlig fern, ein Kind zu erziehen, du weiÃt, wie sehr mir Kindergeschrei auf die Nerven geht, und es wird bestimmt die ganze Zeit schreien â aber so liegen die Dinge nun mal. Ich danke dir für alles und werde mich mein Leben lang schlecht fühlen, das verspreche ich.
Martha hatte leise seinen Namen gerufen, als er das mit dem Kind sagte. Dann war das Meer ins Haus gedrungen und hatte sie fortgerissen.
Henry richtete sich vom Ledersofa auf, sein rechter Fuà schlief noch. Er massierte ihn, bis das Blut in die Zehen zurückkehrte, blickte benommen durch die Fensterfront auf die Felder. Das Meer war verschwunden.
Er humpelte in die Küche, um sich einen Ristretto zu machen. Dieses ScheiÃmeer hätte ihn fortreiÃen sollen, nicht sie. Es tat ihm wirklich leid, was er Martha da gesagt hatte, und es war so grundfalsch! Warum hatte er nicht von Respekt und Dankbarkeit gesprochen, von Bewunderung und Liebe, die er wie kein anderer für sie empfand? Aber nein, er hatte ihr das Herz herausgerissen wie Unkraut. Sie würde niemals über den Schmerz hinwegkommen, das stand fest.
Er wartete auf einem Bein stehend neben der Maschine, bis das Wasser heià war. Es war klar, dass ihr die ganze Sache viel schonender beigebracht werden musste, das mit dem Kind sollte er besser gar nicht erwähnen, es könnte sie glatt um den Verstand bringen. Aber wenn er das mit dem Kind verschwieg, wozu dann überhaupt etwas gestehen? War nicht eigentlich alles gut genau so, wie es war? Je länger Henry darüber nachdachte, desto klarer
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