Die Wahrheit und andere Lügen
überraschte ihn, und alles Originelle war ihm bereits bekannt. Doch was immer man über ihn denken mochte, er sah das Wesentliche und legte das Schöne frei, um es leuchten zu lassen. Er arbeitete im Verborgenen, niemand wusste, wie er aussah und ob er vielleicht noch bei seiner Mutter wohnte.
»Lass ihn warten, bis du gelesen hast.«
»Selbstverständlich! Hast du schon einen Titel?«
»Noch nicht.«
»Wir finden einen. Sag mir, wann kann ich lesen?«
Henry sah ein Reh im Rapsfeld stehen. Er verringerte die Geschwindigkeit weiter. »Jetzt hast du es wieder getan, Claus. Du wolltest mich nicht unter Druck setzen. Du wirst womöglich enttäuscht sein.«
»Das überlass mir.«
Henry hielt den Wagen am StraÃenrand an. »Claus, ich hab noch nicht entschieden, welches Ende die Geschichte nehmen wird.«
»Du hast bisher immer richtig entschieden.«
»Diesmal wird es schwer.«
»Hast du darüber mit Betty gesprochen?«
»Nein.«
»Sprich mit ihr. Ruf sie an. Triff sie.«
»Alles zu seiner Zeit, Claus.«
»Nur noch zwanzig Seiten. Ich bin begeistert begeistert. Wollen wir sagen ⦠Mitte August?«
»Mitte August ist gut.«
* * *
Das Anwesen von Martha und Henry stand auf einer Anhöhe, umgeben von dreiÃig Hektar Feldern und Wiesen, die an Bauern verpachtet waren. Es war ein klassisches Fachwerk-Herrenhaus mit Scheunen auf Feldsteinfundamenten und eigener Kapelle. Symmetrisch gepflanzte Pappeln zogen eine gerade Linie zum Haus. Kein Zaun umschloss den wilden Garten mit den alten Bäumen, kein Schild verbot den Zugang, kein Name stand an der Tür. Und dennoch wusste jedermann im Umkreis, wer hier wohnte.
Der schwarze Hovawart kam Henry entgegen und drehte sich ekstatisch in der Luft. Ponchos von keiner Menschenkenntnis getrübte Freude rührte Henry jedes Mal. Der Maserati rollte mit leise malmenden Rädern vor das Haus. Martha war noch nicht vom täglichen Bad im Meer zurück, sonst hätte ihr Klappfahrrad neben der Haustür gelehnt, die wie immer offen stand. Das Moskitogitter an der Haustür hing seit fast einem Jahr zerfetzt in den Scharnieren, weil Poncho einfach durchgerannt war. Henry hatte Marthas Klappfahrrad oft repariert und immer wieder die Reifen geflickt, obwohl ihr Saab in der Scheune stand, aber den benutzte sie so gut wie nie. Sie hätte ein Flugzeug haben können oder eine Yacht, aber ihr reichte ein Klappfahrrad.
Henry streichelte das kaschmirweiche Fell des Hundes, lieà ihn seinen Handrücken ablecken, dann nahm er einen Stein, warf ihn weit auf die Wiese. Er sah Poncho nach, der wie von einem Katapult gezogen zwischen den Halmen verschwand, um den Stein zu suchen. Glücklicher Hund, braucht nur einen Stein.
Sobald Martha vom Schwimmen zurück ist, beschloss Henry, werde ich ihr alles sagen.
Sechs maschinenbeschriebene Seiten lagen auf dem Eichenholz der Kücheninsel. Säuberlich nebeneinander. Der dritte Teil des vierundfünfzigsten Kapitels. Martha hatte es vergangene Nacht beendet. Bis in die frühen Morgenstunden hatte er die Schreibmaschine klackern hören. Henry warf den Wagenschlüssel auf den Tresen, nahm sich eine Mohrrübe aus der Holzschale, biss ab und begann zu lesen. Klar und in gerader Folge reihten sich Marthas Worte aneinander, kein weiteres Wort passte dazwischen, keines konnte entfernt werden, ohne den Duktus zu zerstören. Das Kapitel fügte sich nahtlos an die vorangegangenen, die Geschichte floss mit einer Gewissheit ihrem Ende entgegen, als sei sie nicht erdacht, sondern aus sich selbst hervorgebracht, wie die Pflanze aus dem Samen. Wie unbegreiflich, dachte Henry. Woher nur kam dieses Wissen, welche Stimme sprach zu ihr, die für ihn so unhörbar war?
Nach der Lektüre öffnete Henry die ausgewählte Fanpost, die täglich vom Verlag an ihn weitergeleitet wurde. Er signierte ein paar Exemplare von Frank Ellis , meist von Frauen zugesandt. Einige von ihm signierte Exemplare tauchten später bei eBay wieder auf, für völlig überzogene Preise, wie Henry fand. Manche Frauen legten Fotos von sich bei, andere gepresste Blüten und nicht selten Kussabdrücke. Immer wieder fand Henry eingeklebte Haare, auch Heiratsanträge waren darunter, obwohl doch sämtliche Medien verbreiteten, dass er bereits verheiratet war.
Womit sollte er beginnen? Das Schlimme zuerst, das mit dem Kind. Oder das doch lieber
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