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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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machte ein Foto von den beiden mit Henry in der Mitte, die Frauen verließen das Fischgeschäft, ohne dabei den Boden zu berühren. Obradin sah den beiden knurrend nach.
    Â»Ich reiße mir jedes Mal ein Arschhaar aus, um dich nicht zu verpetzen, und dann kommst du und sagst: Hier bin ich.«
    Â»Sie werden wiederkommen und deinen Fisch kaufen, weil sie nun wissen, dass du sie nicht tötest.«
    * * *
    Zum Abendessen grillte Henry Obradins Seeteufelmedaillons a la plancha. Martha und er aßen in der kühlen, von geschnittenem Gras aromatisierten Nachtluft auf der Veranda, und tranken Pouilly Fumé dazu.
    Â»Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte Martha in ihrer unnachahmlich knappen Art, mit der sich weitere Rückfragen erübrigten. Henry kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass der unhörbare Kontext dieser Frage lautete: Erspare mir die Details, ich will keine Erklärungen, und vor allem, stell dich nicht dumm .
    Henry spießte ein Stück Fisch mit der Gabel auf und strich mit dem Messer etwas Rieslingschaum darauf. »Nicht im Mindesten«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Mach dir keine Sorgen, ich regle das.«
    Damit war das Wesentliche gesagt. Der telepathische Kontakt, der sich mit den Ehejahren einstellt, wird von Unbeteiligten oft als Schweigen gedeutet. Auch Henry hatte vor seiner Ehe angenommen, wortlos essende Paare an Restauranttischen hätten sich nichts zu sagen, inzwischen wusste er, dass sie eloquente Konversation ohne ein Wort führen. Manche erzählen sich sogar Witze dabei.
    Martha ging früher als sonst nach oben, um das vierundfünfzigste Kapitel zu beenden, das den Roman abschloss. An der Terrassentür drehte sie sich noch einmal zu Henry um.
    Â»Ist es Zeit für einen Neuanfang, Henry? Ist nicht alles gut so, wie es ist?« Sie wartete nicht auf seine Antwort.
    Henry machte den Abwasch, fütterte den Hund, zog sich dann in sein Atelier zurück, um die »Sportschau« zu sehen und weitere Streichhölzer in seiner Bohrinsel zu verkleben.
    Hohe Regale mit ungelesenen Büchern standen neben Aktenschränken voller Zeitungsartikel. Sämtliche über ihn erschienenen Publikationen waren hier nach Datum, Sprache und Verfasser abgeheftet. Besonders wohlmeinende Passagen unterstrich er mit dem Lineal, eine Angewohnheit, für die er in der Schule stets gelobt worden war. Die wichtigsten Preise und Auszeichnungen hingen an den Wänden oder standen in gläsernen Vitrinen. Schon in früher Kindheit hatte Henry einen Hang zum Abschreiben und Archivieren an sich bemerkt. Mit jedem erschienenen Roman wuchs seine Sammlung um ein Regal. Martha zeigte er sie nicht mehr, allein bei dem Gedanken bekam er vor Scham rote Ohren.
    Am Fenster stand sein Schreibtisch. Hier beantwortete er Briefe, sortierte Belege für den Steuerberater und klebte diverse Bohrinseln aus Streichhölzern. Einmal fertiggestellt, wurden sie in den Keller verbannt und zum Sonnwendfest als Grillfeuer für Würstchen verbrannt. Er hatte bereits über vierzigtausend Hölzer an dem maßstabsgerechten Modell der norwegischen »Sea Troll« verklebt, nebenbei bemerkt der größten Condeep-Erdöl-Förderplattform der Welt. Abschließend sah Henry zwei Folgen »Bonanza« und ging inspiriert schlafen. Er träumte nicht in dieser Nacht, sondern schlief ruhig und fest wie Hoss Cartwright von der Ponderosa, denn er wusste nun, was zu tun war.
    * * *
    Das Surren der automatischen Jalousien weckte ihn. Sonnenlicht drang in den Raum, er schlug die Decke beiseite, der Stabschatten seiner Morgenerektion zeigte Viertel nach sieben. Poncho schlief neben seinem Bett. Henry trank Kaffee, duschte ausgiebig und holte die Wanderstiefel aus dem Schrank. Sobald Poncho die Stiefel sah, begann er sich zu drehen und schwanzwedelnd vor der Haustür auf und ab zu tänzeln. Er lief vor Henry zum Wagen und sprang auf den Beifahrersitz. Die Stunde der täglichen Wanderungen war gekommen.
    Um bei seinen Exkursionen mit Hund nicht von Bewohnern der Umgebung erkannt zu werden, wählte Henry stets entfernte Orte im Hundert-Kilometer-Radius aus, ein Romanautor ist schließlich kein Wandersmann. Dank einer militärisch genauen Karte, auf der die kleinsten Waldwege verzeichnet waren, hatte er in den letzten zwei Jahren große Wiesen und Waldgebiete erschlossen, war durch malerische Moore und abgelegene Küstenregionen gestreift, hatte allerhand

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