Rebellen: Roman (German Edition)
1. Alexander
Das Erste, was er von Paul sah, war die Glut seiner Zigarette.
Zunächst dachte er, es sei eines jener selten gewordenen Glühwürmchen, die er manchmal abends von seinem Zimmer aus beobachtete, wenn sie drüben auf der anderen Seite des niederen Buchsbaumzaunes ihre Tänze aufführten und so eigenwillige Kurven und Linien flogen, so schnell die Richtung ihres Fluges änderten, dass es ihm nie gelang, ihre Bahnen vorherzusagen. Doch dieses Glühwürmchen leuchtete jäh auf und verlosch gleich wieder. Alexander drückte sich enger an die Wand und schob die Gardine ein wenig weiter zur Seite. Er kniff die Augen zusammen, um durchs Dunkel besser sehen zu können, und drüben auf der Heimwiese verwandelte sich der Schatten in eine Kontur, und die Kontur wurde zur Gestalt, zur Gestalt eines Jungen, kaum älter als er, zwölf, vielleicht schon dreizehn Jahre alt. Mit dem Rücken lehnte er gegen den Stamm des alten Apfelbaumes und rauchte.
Unvermittelt überfiel ihn Neid. Ekelhafter, sündiger Neid. Neid, den er am Samstag würde beichten müssen. Neid auf den Jungen auf der anderen Seite des Zauns, für den die Gebote der Erwachsenen nicht galten. Der nicht beim Dunkelwerden ins Bett geschickt wurde. Der nicht jeden Abend die Schande ertragen musste, dass der Bruder eine Stunde länger bei den Eltern vorm Fernseher sitzen durfte, obwohl ernur zwei Jahre älter war. Dieser Junge, nur wenige Schritte von ihm entfernt, wurde bestimmt nicht gezwungen, Klavier zu üben, bestimmt musste er nicht mit den Eltern Mozart hören oder die Schlager von Freddy Quinn.
Als sei es selbstverständlich, hielt der Junge dort drüben eine Kippe in der hohlen Hand. Dann trat er sie mit dem Absatz aus, so wie John Wayne es in den Filmen tat, die er sich manchmal sonntags nachmittags im Friedrichsbau ansah, heimlich, wenn eine großherzige oder kurzsichtige Kartenverkäuferin ihm ein Billett verkaufte.
Der Junge auf der anderen Seite des Zauns stieß sich plötzlich von dem Baum ab, stand einen Augenblick still, als denke er nach, dann marschierte er mit fünf ausholenden Schritten geradeaus, riss die Füße hoch wie ein Soldat. Dann blieb er stehen, drehte sich mit einer einzigen schnellen Bewegung nach links und ging noch einmal fünf Schritte. Er bückte sich. Saß nun in der Hocke und streifte mit der rechten Hand über den Boden. Er griff in die Hosentasche, zog ein Messer hervor und stach in den Boden. Lockerte die Erde, buddelte mit beiden Händen und hob Erde aus. Manchmal hielt er inne und sah sich um. Dann verbarg Alexander sich hinter der Gardine und wartete einen Augenblick.
Kein Zweifel: Der Junge grub mit Messer und bloßen Händen den Boden auf. Als er fertig war, zog er mit beiden Händen eine dunkle Schachtel aus der Erde. Er hob den Deckel hoch und zog eine Pistole hervor. Mit einer kurzen Bewegung steckte er sie in den Hosenbund, legte die Schachtel in das Loch zurück, schob mit dem rechten Fuß die Erde zurück in die Grube und trampelte sie fest.
Eine Pistole!
Alexander zuckte hinter der Gardine zurück.
Verboten!
Absolut verboten!
Vorsichtig beugte er sich vor und schob mit dem Zeigefinger erneut die Gardine zur Seite.
Der Junge auf der anderen Seite des Zauns wischte sich die Hände an der Hose ab und ging mit steifen Schritten über die Wiese zu dem Heckenzaun, der sie von der Haydnstraße trennte. Die Dunkelheit radierte seine Kontur aus und ließ Alexander alleine hinter der Gardine zurück.
Barfuß tapste er ins Bett zurück. Auf dem Rücken liegend streckte er die Beine aus, doch seine Fersen stießen prompt gegen die Fußleiste des Bettes und erinnerten ihn daran, dass er immer noch in einem Kinderbett lag, während sein Bruder schon in einem richtigen, von ihm selbst ausgesuchten Bett schlief. Wütend drehte er sich zur Seite und zog die Knie an den Bauch. Es wuchs in ihm der Beschluss, mehr noch die Gewissheit: Dieser Junge würde sein Freund werden, sein bester Freund. Sie würden abwechselnd diese Pistole tragen und spätabends gemeinsam rauchen.
Er lag in seinem zu klein gewordenen Kinderbett, und er entbehrte etwas, das so grundlegend und elementar war wie Luft oder Wasser oder Brot. Er sehnte sich nach etwas und wusste nicht, wonach.
2. Alexander heute
Die lokale Presse hatte die Vorabmeldungen der großen Wirtschaftsredaktionen sofort aufgegriffen und die Nachricht bereits heute auf die erste Seite gehoben. Immerhin ging nun ein jahrzehntelanger Kampf auf dem Markt für
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