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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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mit einem tragischen Ereignis beginnt, aber nicht selten ist dieses Ereignis bereits die Geburt. Das Böse kommt unschuldig auf die Welt. Es wächst heran, sucht sich eine Gestalt und beginnt sein Werk spielerisch. Henry hatte zu dieser Zeit bereits eine längere Heimkarriere hinter sich, war überall rausgeflogen oder hatte sich aus dem Staub gemacht. Aber kein Wort darüber kam ihm über die Lippen. Es war, als bliebe jeder vergangene Tag als gefrorene Murmel hinter ihm liegen.
    Als Henry nach Sankt Renata kam, war er ein frühreifer, kräftiger Kerl mit Flaumschatten auf der Oberlippe. Er war sportlich, gut gelaunt, hatte etwas Katzenhaftes an sich. Immer zu Späßchen war er aufgelegt, gerne auf Kosten anderer, aber nie ohne einen gewissen Charme. Henry hatte mehr Erfahrung als die meisten anderen Jungs bei den Mädchen, im Umgang mit den Autoritäten und beim Kampf um die größte Portion. Deshalb bekam er auch immer das meiste. Eine Gleichgültigkeit ging von ihm aus wie von einem Erwachsenen, sie machte ihn unempfindlich und furchterregend stark. Ob im Schulunterricht oder bei den Heimerziehern, stets suchte er mit lauernder Wachsamkeit seinen Vorteil. Dabei ging er unauffällig vor, sodass die Wenigsten überhaupt begriffen, dass sie soeben beraubt worden waren.
    Sein spezielles Talent bestand darin, sich das Beste der anderen zu nehmen und so Lob und Privilegien zu erschleichen. Gewissen setzt Respekt voraus, er hatte von beidem nichts, Schmerz spürte er wohl, aber es machte ihm nichts aus, Furcht vor Strafe haben nur die Schwachen. Henry war mit etwas gepanzert, das man nicht sehen konnte.
    Im Unterricht setzte sich Henry stets neben den besten seines Fachs, um besser abschreiben zu können. Aber beim Abschreiben war er schlampig und machte Fehler. Diese Überheblichkeit konnte nur bedeuten, dass ihn bloß der Diebstahl interessierte, seine Beute hingegen langweilte ihn, sobald er sie in Händen hielt. Wenn er das eine oder andere Mal doch erwischt wurde, gab er anderen die Schuld. Keiner wagte es, ihn zu denunzieren, denn Henry verhängte eine Fatwa, die ohne Reichweitenbeschränkung gültig war und jeden zu jeglichem Zeitpunkt ereilen konnte. Du weißt nie, wann – das war Henrys Racheversprechen. Das Unausgesprochene daran war die eigentliche Drohung, die stecken blieb wie ein vergifteter Pfeil. Gisbert las damals die Sage von Grendel, dieser beunruhigenden Kreatur aus der Sagenwelt, die nachts kommt, um die Schlafenden zu holen und sie in seiner Höhle unter dem Sumpf zu verspeisen. Henry war eine Kopie dieses Monsters. Man wusste nie, wann es kommt, sicher war nur, dass es schrecklich werden würde.
    Ein Jahr und drei Monate dauerte sein Gastspiel im Waisenhaus von Sankt Renata. Dann, eines Tages im Winter, war Henry verschwunden und mit ihm die Kasse des Heimleiters. Niemand wusste, wohin er verschwunden war und warum. Und niemand fragte. Es war ein Jubeltag. In Gisberts Ohren klang der Hall der langen Flure wie Kirmesmusik, selbst die Schwestern waren erleichtert. Berichten des Hausmeisters zufolge hatte Henry ein kleines Fenster im Heizungskeller eingeschlagen und war hindurchgekrochen. Blut an den Scherben zeugte von recht tiefen Schnitten. Gisbert argwöhnte, er habe einen der ihren verschleppt, aber es fehlte keiner. Man wartete auf seine Rückkehr, aber keiner ging ihn suchen. Soweit Gisbert sich erinnern konnte, wurden weder die Polizei eingeschaltet noch die Behörden informiert. Man wollte erst mal abwarten, ob er auch wirklich nicht wiederkam. Als der Tag zu Ende ging, blieben die Jungen im Schlafsaal lange wach und lauschten. Henry kam nicht wieder. Grendel war zurück zu seiner hässlichen Mutter in den Abgrundbrunnen gestiegen.
    * * *
    Um bei den Tatsachen zu bleiben, Travis Forster war ein Pseudonym. Jeder hat das Recht, sich einen wohlklingerenden Namen zu geben als Gisbert Fasch, aber kein Mensch hat das Recht, anderen das Leben zu stehlen und sich Schriftsteller zu nennen, wenn er keiner ist. Gisbert Fasch hatte seinen Künstlernamen aus zwei Idolen zusammengesetzt und so in seinen Pass eintragen lassen. Den Vornamen wählte er nach der fiktionalen Figur Travis Bickle, dessen Kampf um Anerkennung und Respekt er sehr bewunderte, seit er Scorseses »Taxidriver« gesehen hatte, den Nachnamen wählte er nach dem Abenteurer Georg Forster, der vor der Weltgeschichte zu wenig Beachtung gefunden hat.
    Gisbert

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