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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Poncho hatte sich in etwas verbissen. Es sah groß aus. Henry überquerte die Lichtung, seine Stiefel sanken in den sandigen Boden. Für die Hasenjagd war der Hovawart zu schwer und zu langsam, und das, was da lag, war größer als ein Hase. Je näher er kam, desto entschlossener riss Poncho an seiner Beute. Etwa zwanzig Schritte entfernt sah Henry, dass es ein Reh war. Poncho zerrte ein großes Stück Fleisch aus seiner Hüfte, der Hinterlauf wackelte in der Luft.
    Das Reh lebte noch. Vielleicht war es angeschossen worden oder krank. Das Tier schaute Henry jenseits allen Begreifens an, während die Zähne des Hundes sich in sein Fleisch gruben. Bebend hob es den Kopf, die blaue Zunge hing heraus, es stieß dampfenden Atem aus.
    Â»Lass los, Poncho, aus!«
    Mit blutroter Schnauze riss der Hovawart sich noch ein Stück vom Reh ab, legte sich wenige Meter entfernt nieder und kaute sein handgroßes Beutestück. Henry kniete sich zu dem sterbenden Tier. Das weiße Fell des Bauches war weit aufgerissen, die Därme hingen heraus, alles in diesem offenen Leib wollte weiterleben. Henry tastete seine Taschen ab. Außer dem Telefon hatte er nichts dabei. Das Reh stieß einen klagenden Laut aus. Er strich mit der Hand über den warmen, wild pochenden Hals. Weit und breit war kein Stein um das Reh mit einem Schlag zu erlösen.
    Henry legte beide Hände um den Hals des Tieres und drückte zu. Das Reh begann zu zucken, Henry ließ nicht los, bis es tot war. Dann strich er mit der Hand über den warmen Kadaver. Das Leben war bereits aus dem Tier gewichen, der Zerfall begann. Henry setzte sich neben den Kadaver und dachte über ein Abschiedsgeschenk für Betty nach. Sie würde wütend sein und enttäuscht. Aber ist Enttäuschung nicht das Ende jeder Täuschung? Der Wetterbericht hatte Regen für die Nacht vorausgesagt. In zehn Stunden würde er Betty alles sagen.

V
    D er lange Gang des Kriminalgerichts war menschenleer. Auf der Holzbank unter dem Fenster sitzend, hielt Gisbert Fasch seine braune Aktentasche mit beiden Händen umklammert und dachte nicht mehr an seine Zahnschmerzen. Menschen gingen an ihm vorbei, manche eilig, manche zögerlich, und verschwanden hinter grauen Türen. In der Oubliette des Gerichtsarchivs hatte er zwei graue Aktenordner in einer Kiste mit aufgeklebtem Fragezeichen gefunden. Darauf hatte ein Bürokrat mit krakeliger Schrift »zu vernichten« vermerkt, danach waren die Ordner in dieser Schatzkiste vergessen worden. Ein echter Glücksfund, gesegnet sei die bürokratische Schlamperei.
    Die Gerichtsakten zum Fall Hayden waren dünn und auf den ersten Blick nicht sonderlich ergiebig. In nüchternen Worten wurde das Verschwinden von Henrys Mutter Charlotte Hayden, geborene Buntknopf, am zweiten Dezember 1979 beschrieben. Da niemand sie als vermisst meldete, wurde auch nicht nach ihr gesucht. Im nächsten Absatz der Tod des Finanzbeamten Martin E. Hayden am späten Abend desselben Tages durch Treppensturz unter Alkoholeinfluss. Ein Zusammenhang beider Ereignisse wurde hier nicht unterstellt, von Mord war keine Rede. Ganz bestimmt eine Tragödie, rätselhaft und schrecklich genug, um einen Jungen von neun Jahren zu zerbrechen, zum Genie zu machen, zum Verbrecher oder für immer verstummen zu lassen.
    Der Verbleib des Kindes Henry Hayden wurde nur am Rande vermerkt, sein Geschick sollte in einem separaten Verfahren geregelt werden. Da offenbar keiner mit dem Wiederauftauchen der verschwundenen Mutter rechnete, wurde Henry der Status Vollwaise zuerkannt, seine Internierung in ein Waisenhaus angeordnet.
    Ein Jahr nach Charlotte Haydens Verschwinden wurden Erziehung und Fürsorge des kleinen Henry durch das Vormundschaftsgericht geregelt.
    * * *
    Also hatte Henry damals gelogen. Es war kein katastrophales Schiffsunglück, bei dem alle außer ihm ertranken. Sein Vater war auch niemals Großwildjäger gewesen, sondern Finanzbeamter in der Hundesteuerstelle. Und der kleine Henry war nicht als einziger Überlebender aus dem eiskalten Nordmeer gefischt worden. Er war einfach übriggeblieben. Ein Bettnässer war er, ein Lügner und unberechenbarer Psychopath.
    Fasch erinnerte sich, wie er Henry Hayden vor mehr als dreißig Jahren im katholischen Waisenhaus von Sankt Renata begegnet war. Henry war damals etwa elf Jahre alt und kein netter Junge. Es mag schon sein, dass die Karriere jedes Psychopathen

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