Milchrahmstrudel
1
Natürlich trug Fanni wieder selbst die Schuld daran, dass sie es war, die über den toten Pfleger stolperte.
Würde sie in der Katherinenresidenz, wie es sich gehörte, die Vordertreppe benutzt haben, dann hätte sie sich auf dem ersten Absatz nicht diesen beiden Schuhsohlen aus geripptem bräunlich gelbem Krepp gegenübergesehen (auf einer klebte ein Kaugummi, in die andere hatte sich ein Reißnagel eingetreten).
Nachdem sich Fannis Blick von dem Reißnagel losgerissen hatte, folgte er einer länglichen Scharte, die von einem kürzlich entfernten Splitter oder einer Scherbe stammen konnte, bis zur Spitze eines hellgrauen Turnschuhs.
Von da aus huschte ihr Blick über das Bein einer Jeans zum Saum eines T-Shirts, verfing sich für einen Moment in einem rötlich braunen Fleck, der bis zum Halsausschnitt des Shirts hinauf Zacken und Nasen in die weiße Baumwolle gefressen hatte, und irrte dann über einen blutverschmierten Hals zu einem vertrauten, aber erschreckend leblos wirkenden Gesicht.
Mord!, rief Fannis ungeliebte Gedankenstimme.
»Roland … tot … blutbesudelt …«, stammelte Fanni.
Und er liegt direkt vor deinen Füßen! Was für ein grausiger Fund! Was für ein Fiasko!, meinte die Gedankenstimme hinzufügen zu müssen.
Aus zwei Gründen war Fanni selbst schuld, dass sie in dieses Fiasko geraten war: Zum einen, weil sie im Seniorenheim stets die Hintertreppe benutzte, um bloß niemandem zu begegnen, dem sie Guten Tag sagen oder mit dem sie gar ein Schwätzchen halten musste. Zum andern, weil sie nicht wie alle anderen Angehörigen der in der Katherinenresidenz beheimateten Senioren ihren Besuch tags zuvor gemacht hatte, als anlässlich der Einweihung der neuen hauseigenen Kapelle auswärtige Gäste dringend erwünscht gewesen wären.
»Ich gehe regelmäßig mittwochs zu Tante Luise«, hatte Fanni ihrem Mann mit fester Stimme entgegnet, als er sie aufgefordert hatte, der Einladung des Heimleiters zu den Feierlichkeiten zu folgen. »Mittwochs um vier gehe ich. Und daran werde ich nichts ändern, egal wie viele Kapellen, Hallenbäder, Bierstüberl, Leseecken, Sonnenschirme und Bettpfannen im Seniorenheim eingeweiht werden.«
»Weil du ein verstocktes, widerborstiges, dickschädeliges Trumm bist«, hatte Hans Rot geantwortet, und Fanni hatte genickt, weil es sich wohl wirklich so verhielt.
Luise Rot – unverheiratet, kinderlos und seit gut einem Jahr an den Rollstuhl gefesselt – war die Tante von Fannis Ehemann Hans Rot. Mangels geeigneterer Kandidaten hatte er die Pflegschaft der Dreiundachtzigjährigen übernommen und sie in der Katherinenresidenz untergebracht, einem von Erlenweiler nur fünf Kilometer entfernt liegenden Seniorenheim.
Das Gros der Aufgaben als Betreuer seiner Tante (Schriftverkehr, Telefonate, Abrechnungen) konnte Hans Rot während der Arbeitszeit im Kreiswehrersatzamt erledigen, wo sich seine beruflichen Pflichten ohnehin von Woche zu Woche dürftiger gestalteten. Schon vor Jahren war das Amt in ein reines Musterungszentrum umgewandelt worden, dem nun ebenfalls das Aus drohte, seit Karl-Theodor zu Guttenberg bei »Beckmann« verkündet hatte: »Die Musterung ist ebenso schwer zu rechtfertigen wie die Wehrpflicht als solche.«
Dementsprechend war der Posten des bevollmächtigten Betreuers von Tante Luise für Hans Rot ein Geschenk des Himmels, denn mit einem Mal hatte er wieder etwas zu tun am Arbeitsplatz, konnte sich wieder dazu berechtigt fühlen, an seinem Schreibtisch zu sitzen und beschäftigt zu wirken. Zweckmäßigerweise lag die Katherinenresidenz inmitten eines kleinen Parks, der an das Gebäude angrenzte, in dem sich das Musterungszentrum befand, sodass Hans Rot täglich nach der Mittagspause oder vor Dienstschluss auf einen Sprung bei Tante Luise vorbeischauen konnte.
»Und du«, hatte er zu Fanni gesagt, nachdem Tante Luise ins Seniorenheim umgesiedelt war, »wirst dich auch öfter bei ihr sehen lassen. Wenigstens einmal die Woche.«
»Gut«, hatte Fanni sich gefügt, »regelmäßig mittwochs nach dem Einkaufen werde ich sie besuchen.«
So hatte sie es dann auch eingeführt und stur beibehalten – Josefi-Umtrunk, Kapelleneinweihungen, Maibaumaufstellen, Grillfest, Nikolausfeier hin oder her.
Weil du ein verstocktes, widerborstiges, dickschädeliges Trumm bist!
Ja.
Eine Soziopathin, wie Hans Rot schon vor Jahren richtig diagnostiziert hat!
Ja.
So eilte Fanni also auch am Mittwoch, dem 23. Juni, um sechzehn Uhr die Hintertreppe des
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