Die Wall Street ist auch nur eine Straße
Ehe ich an die Wall Street gehen konnte, musste ich zwei Jahre Wehrdienst ableisten.
Als ich mich an der Offiziersschule einschrieb, durfte ich meine Einheit wählen; ich entschied mich für das Quartermaster Corps, die Nachschubabteilung der Armee. Nach der Grundausbildung schickte man mich an eine Schule in Fort Lee, Virginia. Lois promovierte damals an der Columbia University, und so oft wie möglich kam sie aus New York nach Virginia, um bei mir zu sein. Nachdem ich die Offiziersschule als Bester meiner Klasse abgeschlossen hatte, konnte ich mir meine Stationierung aussuchen, und den einzigen verfügbaren Quartiermeister-Posten in New York, wohin ich versetzt werden wollte, gab es in Fort Hamilton in Brooklyn. Ich erhielt ihn und wurde dort stationiert, wo ich, zusammen mit einem anderen jungen Leutnant, den Offiziersklub managte.
In einem Gespräch mit meinem Kommandanten sagte ich ihm, ich würde nach meiner Militärzeit an die Wall Street gehen. Das war 1968, und die Aktienkurse gingen durch die Decke. Überall prahlten die Leute damit, wie viel Geld sie an der Börse verdienten. Daher bat mich mein Kommandant, ihm bei seinen Investitionen zu helfen, und ich war einverstanden. Ich glaubte zu wissen, was ich tat. Zum Glück verlor ich sein Geld nicht, sondern erzielte sogar kleine Gewinne. Als ich die Armee im August 1968 verließ, hatte ich seine Investitionen und die Gewinne in bar zurückgezahlt. Ich weiß nicht, was er danach mit dem Geld machte. Ende 1968 erreichte die Hausse ihren Höhepunkt, dann brach die Wall Street zusammen und es folgte eine lange Baissephase. Aber ich hatte ihn in guter Form zurückgelassen.
ICH KAM AM BEGINN EINES JAHRZEHNTS an die Wall Street, das sich als eines der trostlosesten der gesamten Börsengeschichte erweisen sollte. Der Zusammenbruch des Dow 1970 war der schlimmste seit den 1930er-Jahren. Ich arbeitete einige Jahre als Analyst für drei verschiedene Firmen, bevor ich in diesem Jahr eine Anstellung bei Arnhold and S. Bleichroeder erhielt, einer alten deutsch-jüdischen Investmentfirma höchsten Kalibers. (Gerson Bleichröder war der Bankier Bismarcks gewesen.) Nach dem Aufstieg der Nazis hatte die Firma ihre Geschäfte 1937 nach New York City verlagert. Und dort, in diesem kleinen, von der Familie geleiteten Büro, breitete ich wirklich meine Schwingen aus.
Das Schöne und Aufregende an der Wall Street ist, dass sich die Dinge ständig verändern. Man muss den Entwicklungen voraus sein. Die Action hört niemals auf. Das ist wie ein vierdimensionales Puzzle, gebunden an Umsatz und Zeit. Jeden Tag kommt man ins Büro und stellt fest, dass sich viel verändert hat. Jemand stirbt, es gibt einen Streik oder einen Krieg oder die Wetterlage ist eine andere. In jedem Fall ändert sich das Umfeld. Beim Investieren hat man nicht den festen Rhythmus wie bei anderen Arbeiten, und daher wird man ständig geprüft. Wenn man ein Auto entwirft, gibt es einen prognostizierbaren Zeitrahmen, in dem man das Auto produziert und verkauft; der Markt wird es entweder akzeptieren oder ablehnen, aber zumindest hat das Projekt eine bestimmte Lebensdauer. Beim Investieren bewegt sich alles immer weiter, und das macht es zu einer kontinuierlichen, ständigen Herausforderung … ein Spiel, eine Schlacht … nennen Sie es, wie Sie wollen.
Ich liebte es in jeder einzelnen Minute. Ich war in meinem Element. Und ich arbeitete die ganze Zeit, manchmal sieben Tage pro Woche. Ich weiß noch, dass ich mir manchmal wünschte, der Aktienmarkt würde am Wochenende nicht schließen – so sehr liebte ich ihn. Ich weiß noch, dass ich in einer einzigen Woche zehn Unternehmen in zehn verschiedenen Städten besuchte. Mir konnte das gar nicht lange genug dauern. Verständlicherweise war Lois gar nicht glücklich darüber, wie viel ich arbeitete. Während ich 15 Stunden pro Tag im Büro verbrachte, nahm sie an den Studentendemonstrationen auf dem Campus der Columbia University teil, wo die Wall Street in schlechtem Ruf stand. Sie verstand diesen verrückten, getriebenen ehrgeizigen Jungen nicht, der dort sein Vermögen machen wollte. Als ich bei Bleichroeder anfing, waren wir schon geschieden. (Lois und viele ihrer Kommilitonen lernten erst nach dem Abgang von der Universität das wirkliche Leben kennen. Weder ihre Eltern noch ihr 40-jähriger Bruder wollten nach ihrem Uni-Abschluss für ihren Autokredit bürgen. Also fragte sie mich. Ich lehnte ebenfalls ab.)
Viereinhalb Jahre später heiratete ich erneut,
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