Die Wand der Zeit
weniger Überraschungen für mich bereit. Wir sind alte Gefährten.
Die Küstenlinie der Insel ist schwer auszumessen, da jeden Tag ein Stück von ihr ins Meer rutscht. Ich lege aber Wert darauf, meine Darstellung der Insel genau und maßstabsgetreu zu halten, und so bessere ich den in Kohle gezeichneten Umriss jeweils nach.
Einmal um die Insel herumzugehen, die jetzt einen Umfang von etwa fünfzehn Meilen hat, dauert vier Stunden. Bei Ebbe kann ich meist am Strand und an den Felsen entlanggehen. Steigt die Flut, wenn ich zu den Kliffs im Norden komme, muss ich hochklettern und erst mal von der Küste weg. Dann dauert die Runde eine halbe Stunde länger. Und wenn ich meine Messungen vornehme, sowieso.
Als ich hier ankam, hatte die Insel noch einen Umfang von rund achtzehn Meilen. In zehn Jahren habe ich drei Meilen verloren. Wenn das so weitergeht, bleiben der Insel noch fünfzig Jahre. Aber das wird nicht der Fall sein. Je mehr der Umfang der Insel abnimmt, desto stärker ist sie im Verhältnis der See und den Elementen ausgesetzt, was die Erosion beschleunigt. Die Kliffs bröckeln jetzt schneller als vor zehn Jahren, heute schneller als gestern. Wenn das Meer erst bis zu den Sümpfen vordringt, wird das Ganze noch rascher gehen und die Insel in null Komma nichts verschwunden sein. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, einen Deich zu bauen, und vor ein paar Jahren auch schon mal einen Monat Arbeit da hineingesteckt, es dann aber aufgegeben. Die Insel untersteht mir nicht. Wenn sie irgendwann verschwindet, muss ich eben auch gehen, falls ich nicht vorher schon weg bin. Dann endet unser beider Geschichte.
Dass ein Kreis umso schneller an Größe verliert, je kleiner er wird, darüber denke ich oft nach. Ganze Abende lang habe ich die Beschleunigungsrate berechnet, um den Zeitpunkt des Untergangs der Insel zu bestimmen. Auf zwanzig Jahre bin ich gekommen. Heute in zwanzig Jahren wird die Insel noch da sein, mir aber nicht mehr genug Platz bieten. In den letzten Minuten würde ich der Länge nach auf ihr liegen, die Zehen im unteren, die Finger im oberen Meer. So wird es mir jedenfalls vorkommen.
Ob das so stimmt, weiß ich nicht. Ich bin kein Mathematiker, und niemand prüft meine Zahlen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Zweifel kommen mir. Man könnte auch argumentieren, dass die Insel umso langsamer verschwindet, je kleiner sie wird. Heute schrumpft sie langsamer als gestern, weniger als am Tag zuvor. Vielleicht kommt ein Zeitpunkt, an dem die Insel aufhört zu bröckeln, und sie besteht immer weiter, nachdem ich längst vermodert bin.
Deshalb teile ich meine Zeit so ein. Und nutze sie sinnvoll. Wenn ich nicht mehr bin, wird künftigen Generationen, falls es sie gibt, meine Chronik vorliegen. Es mag eine Kleinigkeit auf einer kleinen Insel in einer vergessenen Weltgegend sein, aber ich werde ein Vermächtnis hinterlassen, eine Geschichte dieses Ortes.
Noch etwas ist auf meiner Karte markiert. Eine Stelle, die ich regelmäßig aufsuche. Als ich ungefähr drei Jahre hier war, fing ich an, jeden Abend in der Dämmerung in einem Bereich des Graslands, wo wenig Essbares wächst, einen Stein von etwa dreifacher Faustgröße niederzulegen. Stein neben Stein, zweieinhalb Jahre lang. Nach dreißig Steinen begann ich eine neue Reihe. Es wurden einunddreißig Reihen, die letzte mit nur siebzehn Steinen. Neunhundertsiebzehn Tage lang jeden Tag ein Stein. Und jetzt kehre ich täglich dorthin zurück. Es macht nicht viel her. Fast unscheinbar sieht es aus, mein Steinfeld. Jeden Tag stehe ich da und betrachte die regennassen Steine. Sie spiegeln die Wolken wider. Im Dämmerlicht, mit gesenktem Kopf aus halb geschlossenen Augen betrachtet, wird jeder Stein lebendig, werden sie zu Geistern. Sie wabern um mich herum, verschlingen mich, ziehen mich in das graue Wasser hinab.
Ich habe einmal eine Geschichte gehört, in der die Erde inschwarzen Rauch gehüllt war. Die Menschen wurden in dem Rauch geboren, atmeten ihn, starben darin. Der Rauch hielt sich so lange, dass die Menschen vergaßen, wieso er da war, falls sie das überhaupt je gewusst hatten. Viele lebten unter der Erde, wurden kleiner, nährten sich von Wurzeln und modrigem Erdreich. Nach und nach kamen sie wieder heraus. Einige starben, gefangen zwischen der finsteren Luft und der erdrückenden Erde. Ich stellte sie mir mit im Erdreich versunkenen Beinen und zum Himmel erhobenen Armen vor. Andere erwachten, und in dem grauen Licht kam die Erde in Bewegung. Aber
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